■ Aufbruch zu einer neuen Ethik: Kinderarbeit als Chance: Kinder in den Schacht!
In den Umwälzungen der Arbeitswelt sollen auch die Kleinsten mitschwimmen – doch tun wir genug, um unsere Jugend auf die Ware Leben vorzubereiten? In der untätigen Haltlosigkeit ihrer Freizeit verlieren die Kleinen meist jeden Bezug zur Realität. Formlose Schmierereien mit Fingerfarbe und „Spiel“ machen jeden Menschen auf Dauer lebensuntüchtig. Sinnlose familiäre „Wärme“ verklärt früh den Blick für unverrückbare Realitäten. Diese skrupellose Idyllisierung durch verantwortungslose Erziehungsberechtigte macht die Heranwachsenden schon im Säuglingsalter zu unselbständigen Pflegefällen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder zeigt oft seine verständliche Abneigung gegen juvenile Asoziale, die in Sandkästen herumlungern und eisessend die Fußgängerzonen bevölkern. „Wer Tretboot fährt, kann auch arbeiten“, resümiert Schröder griffig seine Grundsätze. Gemeinsam mit der Werbeagentur Spinner & Jablonsky präsentiert er nun seine neue Imagekampagne. „Die Kinder haben sich die Welt von uns nur geliehen“, heißt es sinnig in den großflächigen Anzeigen. Blondschopf Kevin (9), dessen zerfurchtes Gesicht in der Werbeaktion visuelle Akzente setzt, hat schon früh seine Brauchbarkeit bewiesen. „Ich arbeite bis zum Umfallen“, sagt Kevin, und tausend Fältchen überziehen seine eingefallenen Wangen. Es sind Lachfalten.
„Natürlich ist Kevin nur ein Idealfall“, räumt Werbemann Jablonsky vorsichtig ein. „Manche Kinder wollen einfach nicht arbeiten.“ Hier sind die Pädagogen gefragt. Ständiger Begleiter Schröders ist Herbert Grönemeyer, der jetzt einen seiner alten Hits entstaubt. „Kinder in den Schacht“ – mit dieser mitreißenden Devise will er so manches Stadion zum Kochen bringen. Seine Roadies: Kinder im Vorschulalter. „Die schwersten Boxen tragen sie, wenn's sein muß halt zu zweit“, schildert Grönemeyer den Touralltag. Schröder nickt zustimmend. „Wenn einer unserer Youngsters kollabiert, muß man eben Abstriche machen. Man kann nur im Vorfeld durch harte Strafen dafür sorgen, daß keiner ans Simulieren denkt.“
Eigentlich sollten Klavierstunden schon längst mit Unverständnis belächelt werden. Doch während in Deutschland viele Unternehmen noch sehr zögerlich im Umgang mit dem „Rohstoff Kind“ (Spiegel) sind, ist man in den USA wie immer einen Schritt voraus in Richtung Privatisierung. „Get rid of your kid“ heißt die Initiative, in der Eltern ihre Sprößlinge unbürokratisch zum Bruttosozialprodukt beitragen können.
Auch im Internet macht das Thema Furore. In Chatrooms können Schleifer ihre besten Tips & Tricks austauschen, und ein Online-Bestellservice für kindgerechte Arbeitsdrogen – „Speedy Gonzales“, „Koksschnitte“, „Überraschungs-E“ – ist schon eingerichtet. Auch die Wissenschaft schläft nicht. Erste Experimente mit Tiefkühlkindern sind zwar noch unbefriedigend – geeignete Auftauöfen sind noch nicht erfunden, Gefrierbrand ist an der Tagesordnung. „Aber wir werden das Kind schon pökeln“, scherzt Wolfram Schl., Pressesprecher eines bekannten Speiseeisherstellers.
Viele Kinderarbeitsplätze gehen z.Zt. jedoch gerade in der Schwerindustrie verloren. Die Thyssen AG entließ zum letzten Quartal über 1.000 Bambino-Malocher, die Tätigkeiten wie das Reinigen von Benzintanks und die gefährliche Wartung defekter Hochöfen übernommen hatten. Thyssen-Manager Bert Weibel: „Immer öfter blieben verendete ,Kurzarbeiter‘, wie wir sie etwas salopp nennen, in den Tanks zurück. Und gerade im Walzwerk hatten wir gegen Ende der Doppelschicht unserer Jüngsten eine hohe Verlustrate. Termine konnten nicht eingehalten werden. Da muß man nüchtern kalkulieren.“ Das Gütesiegel „Garantiert Kinderarbeit“ prangt jedoch bereits auf vielen Produkten und gibt dem Konsumenten die Gewißheit, daß hier ordentlich ausgebeutet wird.
Es zeigt sich: Auch im Fall Kinderarbeit sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Die schleppende Reaktion des Gesetzgebers auf die veränderten Anforderungen des globalen Marktes sind in einem konkurrenzfähigen Deutschland sicherlich nicht zukunftsweisend. Auch auf seiten der Grünen steigt die Akzeptanz des neuen Beschäftigungsmodells. Die leidige Tierversuchsdebatte könnte mit einem Schlag beendet sein; entsprechende Gesetzesvorschläge sind bereits eingereicht. „Die infantile Schiene werden wir noch eine Weile fahren können“, so der Kanzler zufrieden, „doch langfristig ist auch die Erschließung des Seniorenmarktes eine Alternative.“ Endlich ist es soweit: Es bewegt sich etwas in unserem Land. Daniel Hermsdorf und
Benjamin Heßler
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