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Bravo Almanya!

Die türkische Öffentlichkeit reagiert begeistert auf den Beschluß der rot-grünen Koalition zur doppelten Staatsbürgerschaft: „Ideologie des Gastarbeiters geht zu Ende“  ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

900.000 Türken werden Deutsche und die Bild-Zeitung freut sich. Selten ist in der Türkei eine Schlagzeile so oft zitiert worden wie „Yeni Vatandaslar Hosgeldiniz“ (Willkommen neue Staatsbürger) aus der Bild von Freitag. „Bravo Deutschland“ begeisterte sich das Boulevard-Blatt Sabah und die seriöse Cumhuriyet schrieb, die Entwicklung käme schon fast einer Revolution gleich. Die Deutschen akzeptieren die doppelte Staatsbürgerschaft, schaffen ihr antiquiertes Staatsbürgerschaftsrecht ab und selbst Bild ist dafür. Während man sich offiziell noch zurückhaltend gibt – das türkische Außenministerium begrüßte die Absichten der neuen Regierung in gemessenem Ton, will aber erst einmal abwarten, was konkret daraus wird – ist die Begeisterung in der Öffentlichkeit allgemein. Aus türkischer Sicht ist vor allem die Akzeptanz einer doppelten Staatsbürgerschaft der entscheidende Durchbruch.

Nach Jahrzehnten der Demütigung, nach ständig neuen juristischen Restriktionen für Visa und Einreise von Ehepartnern und anderen Verwandten, nach den Schocks der brennenden Häuser in Mölln und Solingen, ist dies der erste große positive Schritt für die türkischen Einwanderer in Deutschland. Die rund 900.000 Türken, auf die die hiesige Presse sich bezieht, sind alle diejenigen, denen nach der Neuregelung ein deutscher Paß zusteht. Keine Frage, daß sie den auch beantragen werden. Ismail Günidi, im Innenministerium in Ankara für die Erteilung und Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft zuständig, hat bereits angekündigt, man werde nun viele bürokratische Hürden für diejenigen Türken beseitigen, die die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen wollen.

Der für die Türken im Ausland zuständige Staatsminister Rifat Serdaroglu wagte sich von offizieller Seite am weitesten vor. „Damit“, sagte er in diversen Interviews, „hat Deutschland sein Staatsbürgerschaftsrecht auf den Stand des 21. Jahrhunderts gebracht.“ Mit einem ähnlichen Tenor kommentierte am Samstag der Chefredakteur des Massenblattes Hürriyet, Ertugrul Özkök, die rot-grüne Verabredung. „Endlich geht in Deutschland die Ideologie des Gastarbeiters zu Ende.“ Das 21. Jahrhundert, hofft Özkök, wird ein völlig neues Verständnis für Minderheiten bringen.

Pikant ist, daß ausgerechnet Hürriyet den grünen Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir für den eigentlichen Vater dieses großen Erfolges hält. Cem Özdemir, der so viele Jahre für die Rechte der türkischen Minderheit in Deutschland gekämpft hat, habe es nun endlich geschafft. Während Hürriyet Özdemir in der Türkei über den Klee lobt, wird derselbe Mann in der Deutschland-Ausgabe derselben Zeitung niedergemacht. Im Streit um die Besetzung der Stelle des Ausländerbeauftragten der neuen Regierung ist Kolumnist Ertug Karakullukcu heftig bemüht, seinen Lesern klarzumachen, daß selbst die Linke Claudia Roth dem Verräter Özdemir vorzuziehen sei.

Wenn sich die jetzigen Erwartungen bestätigen und tatsächlich die meisten Türken, die dazu berechtigt sein werden, demnächst einen deutschen Paß beantragen, kann die SPD bei den kommenden Wahlen mit einer knappen Million zusätzlicher Stimmen rechnen. Von den 160.000, die bereits wählen durften, haben 76 Prozent SPD gewählt. Im Jahr 2002 dürfte die Quote höher liegen.

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