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Melancholie eines Barbaren

Für immer Südsee: Die Neue Nationalgalerie zeigt Paul Gauguins Paradies als Erfindung  ■ Von Katrin Bettina Müller

Es ist fast der schimmernde Goldgrund des Mittelalters, in den Paul Gauguin seine „Tahitianische Pastorale“ 1898 einbettet. Die wie in einem steinernen Fries aufgereihten Figuren erinnern an archaische Götterbilder, das beschützende Dach der Bäume und die angstlosen Tiere zwischen ihnen dagegen scheinen aus dem biblischen Paradiesgarten vertraut. Gauguins Paradies war die Heimat vieler Götter. Der Maler, der als Autodidakt begonnen hatte, schöpfte nicht nur aus der europäischen Kunstgeschichte, sondern nutzte auch japanische Holzschnitte, peruanische Keramik und buddhistische Tempelfriese als Quellen. Selbst die Wände seiner Hütten in Tahiti waren mit Kunstpostkarten aus aller Welt tapeziert.

Gauguins Reisen in die Südsee haben oft übersehen lassen, daß der Maler seinen Traum vom Einklang zwischen Mensch und Natur auch dort nicht mehr „nach der Natur“ malen konnte, sondern als Vision erfinden mußte. Als er 1891 mit 42 Jahren das erste Mal in die Südsee aufbrach, hatten die Kolonialherren und Missionare dort nicht mehr viel von der ursprünglichen Kultur übriggelassen, die den Europäern 140 Jahre zuvor, bei der Entdeckung der Inseln, noch wie eine unschuldige Kindheit der Menschheit erschienen war. Mit dem Titel „Das verlorene Paradies“ rückt die aus Essen übernommene Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie die Kunst Gauguins unter das Vorzeichen dieses Verlustes.

Lückenlos ist die kunsthistorische Ahnenkette, in die Gauguin gestellt wird. Sie beginnt mit einem Prolog, der mit Paradiesbildern von Cranach, Breughel, Poussin und von Gauguins Zeitgenossen Puvis de Chavannes und Edvard Munch die Kontinuität des abendländischen Themas vom Sündenfall und der Sehnsucht nach der Rückkehr in eine vorgeschichtliche Zeit belegt. Sie endet mit einem Epilog, der die von Gauguin inspirierten Expressionisten Paula Modersohn-Becker, Kirchner, Schmidt-Rottluff, Nolde und Marc versammelt. So wird der Maler, der sich selbst zum Barbar stilisierte, zum Katalysator zwischen einer noch religiös gebundenen Ikonographie und der Moderne.

Was allerdings nicht in der musealen Geschichtsschreibung auftaucht, ist die Beerbung seiner Südseeschönheiten durch Generationen von Sonntagsmalern und Kitschproduzenten. Selbst wem Picasso schon zu abstrakt und zu kompliziert ist, findet zu Gauguins „Naturschönheiten“ unmittelbaren Zugang. Angesichts dieser großen Popularität, die sich auch in Kunstdrucken und Kalendern niederschlägt, kann man fast vergessen, daß Gauguins Werke im Original selten zu sehen sind. In Berlin verfügt die Alte Nationalgalerie über ein einziges Bild, seit den 20er Jahren gab es keine Ausstellung mehr. Von den 48 gezeigten Bildern stammen 12 aus St. Petersburg und Moskau, andere kommen aus Boston, New York, London oder Israel. Der Verein der Freunde der Nationalgalerie ist mit der Entscheidung, das Projekt des Essener Folkwang-Museums nach Berlin zu holen, sein bisher größtes finanzielles Risiko eingegangen. Der Erfolg Gauguins in Essen und von weiteren Ausstellungen, die dieses Jahr anläßlich des 150. Geburtstags des Urahns aller „wilden Malerei“ in Stuttgart und München stattfanden, läßt sie auf lange Schlangen vor den Kassen hoffen.

Die Begeisterung für Gauguin verdankt sich nicht nur fortgesetzten Südseeträumen. Sie trifft vielmehr mit einer kritischen Selbstbesinnung der Kunstgeschichte zusammen, die schuldbewußt mit der Verengung ihres Blicks auf die westliche Welt hadert. Gauguin zu verehren und zugleich die imperialistische Zerstörung der Südsee- Gesellschaften zu dokumentieren wird zu einer Bußübung. Sie möchte Abbitte leisten für den spirituellen Raubbau der europäischen Moderne an den kolonialisierten Kulturen.

Gauguins abenteuerliches Leben als Seemann, Börsenmakler und zuletzt als Künstler hat zu seinen Lebzeiten schon ebenso zur Legendenbildung beigetragen wie seine Selbststilisierung als „Indianer“ und „Wolf im Dickicht“. Als er 1902 aus gesundheitlichen Gründen von den Marquesas- Inseln nach Frankreich zurückkehren wollte, riet ihm ein Freund ab: „Sie dürfen nicht wiederkommen. [...] Sie genießen die Unantastbarkeit der großen Toten, Sie sind in die Kunstgeschichte eingegangen.“ Für den Verkauf seiner Bilder war der Mythos seines Lebens unter Palmen entscheidend, egal wie sehr ihn dort Syphilis, Herzanfälle und Krampfadern plagten.

Doch mehr noch als der Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit nimmt das Pulsieren der Farben in seinen Bildern gefangen. Ihre Energie transportiert eine Lebendigkeit, die allen Enttäuschungen trotzt. Ihre Intensität erzeugt eine eigene Plastizität und Räumlichkeit, die sich von der tradierten Perspektive löst. Tahitianerinnen sitzen auf gelben und rosa Flecken, die nicht die schwere Stofflichkeit der Erde, sondern die einer glühenden Wolke haben.

Die Figuren selbst dagegen wirken heute oft klischeehaft vereinfacht. Für seine Zeitgenossen allerdings war die große Nähe, die zwischen ihnen spürbar wird, ein Vorgeschmack auf das Paradies. Die Nacktheit ihrer Körper mußte weder allegorisch eingekleidet werden, noch brauchte sie die Bühne des Boudoirs. Tatsächlich hatte die ursprüngliche sexuelle Freizügigkeit der Tahitianerinnen zu Gauguins Zeiten die Scham- und Schuldkampagnen der katholischen Missionare kaum überstanden; und wenn, dann nur um den Preis von Krankheit und Armut. Gegen diese erzwungene Sexualmoral und kirchliche Heuchelei zu rebellieren kostete Gauguin in seinen letzten Lebensjahren die meiste Kraft.

Bis 10.1. 1999, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Str. 50; Di.–Do. 10–20 Uhr, Fr.–So. 10–22 Uhr. Katalog (Dumont-Verlag) 48 DM

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