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Aus Briefen werden Lotsen

■ Neu im Kino: „Hamam“ – ein später, melancholisch-ätherischer Hymnus auf das Aussteigertum

In Massen strömten die schwarz-weiß-blau gekleideten Existentialistenfiguren des Viertels jetzt ins Cinema zu Ferzan Ozpeteks „Hamam – Das türkische Bad“. Existentialistische Leere dagegen hallt durch eben jenen zeitenthobenen Entspannungsort für den türkischen Mann im gassendurchfurchten Herzen Istanbuls: das Hamam – Staub bedeckt die einstige Marmorpracht. Wandmalerei löst sich in Wolken auf: Nebelbaden in Hamamen (oder Hamams?) ist längst aus der Mode gekommen. Und die Betreiberin des Hamams verstarb jüngst. Nun reist ihr italienischer Neffe an, um die Erbmasse schleunigst meistbietend zu verkaufen.

Doch zu Francescos Glück und Unglück fallen ihm ein Bündel uralter Briefe der Tante in die Hände. Diese erzählen vom Mut zum Schlußstrichziehen und zum totalen Neuanfang: Für Francesco eine Art Wegweisung (wobei das „E“ im Weg lang und kurz gedacht werden kann). An der meerdurchpulsten Gelenkstelle zwischen Orient und Okzident lösen sich die klaren westlichen Strukturen im erfolgsgeeichten Igitt-Innenarchitekten auf. Der einst klassisch-lieblose Ehemann schwankt plötzlich orientierungslos zwischen den Geschlechtern hin und her. Gänzlich unökonomisch schenkt er seine ganze Energie der Renovierung der alterwürdigen Gemäuer der verstorbenen Tante. Was für sein eigenes Leben eine Revolution ist, bedeutet für die Stadt Istanbul eine Rückbesinnung auf alte Traditionen. Durch seine Renovierungsarbeit nämlich verhindert Francesco ein ekliges Einkaufszentrum, das einen ganzen gewachsenen Stadtteil inklusive Plaudereien von Balkon zu Balkon vernichtet hätte. (Insofern ist dieser Film auch als Beitrag zu Bremens aktuellen Stadtentwicklungsplänen zu verstehen.)

Die Verbindung zu seiner Terrassenwohnung über den Dächern Roms geht Francesco langsam, aber sicher verloren. Wie zeigt man eine solche Abnabelung heutzutage? Ganz einfach: Wenn das Handy piepst, flötet der Protagonist erst genervt rein, dann stellt er es ganz aus. Schön, daß es Handys gibt. Sicher wird es bald zur ersten Doktorarbeit über die Symbolsprache des Handys im heutigen Film kommen. Aber auch Eheringe eignen sich ganz vorzüglich für Ozpeteks klare, schlichte Filmsprache. Francescos Frau streift ihren ab, übernimmt dann aber am Filmende den ihres Mannes – und das Selbstbefrei-ungskonzept von ihm und der Tante mit dazu. Am Ende ist es sie, die das Aussteigen lebt – und überlebt.

Man könnte Ozpeteks Film vorwerfen, daß er nichts erklärt: weder die Neuentfachte Homosexualität noch den Sinneswandel und Ortswechsel des Helden. Seine neue türkische Familie mit einer studierenden Tochter und einem Sohn, der beim TV arbeitet, könnte es genauso in Rom geben.

Doch dieser Film muß nichts erklären. Die Kamera schweift so verführerisch übers Meer und durch Istanbuls Gassen, sie blickt so andächtig in die kirchige Schwimmbadkuppel und in schöne Menschengesichter, daß dieser Text an dieser Stelle beendet werden muß. Denn um sechs Uhr schließen die Reisebüros. Und woher soll man dann ein Ticket nach Istanbul bekommen. bk

Cinema 21 Uhr

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