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■ StaatsbürgerschaftAllgemeine Herzergriffenheit

#IntertazMontag, 16. November 1998

Staatsbürgerschaft

Allgemeine Herzergriffenheit

Die auflagenstarke und einflußreiche gastarbeiterpostille Hürriyet versteht sich als ein blatt der weltkennzeichnung, vor allem wenn es gilt, dem in heimatgefühlen schwelgenden auslandstürken seine kulturbrüche in der fremde zu nehmen. auf den europaseiten dürfen die almanci, die deutschländer, von der eröffnung einer mangelstube in berlin-neukölln bis zur verdammung des belgischen schiedsrichters in einem auswärtsspiel der nationalmannschaft, zu wort kommen.

nun begab es sich in letzter zeit, daß gleich kellner und kundschaft ganzer teehäuser oder reguläre spieler und die reservebank von türkspor- vereinen seitenlange elogen an die rot-grüne koalition verfaßten. von einer neuen epoche war da die rede, von einer strahlenden ära der deutsch-türkischen waffenbruderschaft, von der niederkunft der zivilisation in almanya.

die sogenannte reform des staatsbürgerschaftsrechts machte aus sonst eher teeschlürfenden rentnervatis hurra-brüllende husaren. leitartikler verfaßten arabesk-schmonzetten, in denen sie immer und immer wieder die Bild-zeitung zitierten. diese hatte zwar in türkisch die neuen staatsbürger willkommen geheißen, in einer viel größeren schlagzeile aber getitelt: „900.000 türken bald deutsche?“

hakki keskin, der vorsitzende der türkischen gemeinde in deutschland, freute sich derart, daß er sich und seine mannen mit einer bolivianischen partisaneneinheit verwechselte: „das war ein langer marsch. wir können uns nun in diesem lande als angehörig fühlen.“ der bündnisgrüne bundestagsabgeordnete cem özdemir sprach „von einem wichtigen schritt in die berliner republik“, und daß endlich schluß sei mit dem wilhelminischen verständnis vom staatsvolk.

bei der masse an türkenvertretern wird man den verdacht nicht los, daß sie nun ihren jahrelangen kampf, der keiner war, belohnt sehen wollen. die allgemeine herzergriffenheit war so überbordend, daß sogar ferne verwandte aus der türkei anriefen, um mir zu gratulieren, als feierte ich mein zweites beschneidungsfest.

die reaktion der zweiten und dritten generation fällt dagegen erstaunlich deutsch aus: von festtagsstimmung keine spur. und tatsächlich bedeutet die reform eher eine normalisierung und anpassung an den eu-standard. in den genuß der neuen regelung kommen zuwandererkinder, deren eltern bereits in deutschland geboren worden sind; nicht berücksichtigt werden aber die hier lebenden nicht-deutschen der zweiten generation.

die verkürzung der einbürgerungsfrist von fünfzehn auf acht jahre und die tolerierung der doppelten staatsbürgerschaft sind natürlich trotz alledem konkrete schritte in die richtige richtung.

Feridun Zaimoglu

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