■ intershop: Was geht uns die Reichspogromnacht an?
Wenn ich den S-Bahnhof in der Oranienburger Straße verlasse, fällt mein erster Blick auf die strahlende Goldkuppel der Neuen Synagoge. Mein Blick fällt auch auf die Polizisten, die davorstehen, und auf das Schild, das an jenen Schupo erinnert, der am 9. November 1938 den deutschen Pöbel davon abhielt, das Gebäude niederzubrennen. Er tat das im Namen von Recht und Ordnung.
Solche Beispiele mögen wir. Es ist genügend Zeit vergangen, um sie zulassen zu können. Wir danken Spielberg für seinen Schindler, und sogar Marlene Dietrich hat schließlich einen Winkel bekommen am Potsdamer Platz. Unsere Eliten jedoch tun sich neuerdings wieder schwer mit dem Gedenken. Beispielsweise mit einem Holocaust-Mahnmal mitten in dieser Stadt. Sie machen sich Sorgen um den Sinn eines solchen Mahnmals. Nicht, daß das grundsätzlich falsch wäre, aber ihre Verlautbarungen sind von seltener Eintracht. So als würden sie keine Parteien mehr kennen, als würden sie nur noch Deutsche kennen.
Einer hat diese merkwürdige Haltung auf den Punkt gebracht. Es ist der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, der Schriftsteller Martin Walser. Er hat wörtlich gesagt: „Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.“
Während sich die Elite derartige Sorgen um das Wohlbefinden der Nation macht, erzählen uns die kleinen Meldungen in den Zeitungen von der unaufhörlichen Gewalt gegen Ausländer oder ausländisch Aussehende, von Übergriffen und Überfällen.
So mahnt die Welt die vermischten Nachrichten an, daß die dumpfen Ursachen, die die Reichspogromnacht möglich machten, auch heute noch aktuell sind. Gegen Rassismus, Antisemitismus, Fremden- und Ausländerhaß hilft auch keine Änderung in der Staatsangehörigkeitsfrage. Jedenfalls ist es keine Garantie. Zu ändern wäre vielmehr eine bis heute wirksame Mentalität der Ausgrenzung. Ich meine: Darüber nachzudenken lohnt es sich auch 60 Jahre nach der Reichspogromnacht. Richard Wagner
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