: Rußland nach Auftragsmord unter Schock
Nach dem Mord an Galina Starowojtowa formieren sich demokratische Kräfte. Boris Jelzin mit Lungenentzündung in Klinik eingeliefert. Regierung lehnt Verhängung des Ausnahmezustandes ab ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Rußlands Kommentatoren kennen dieser Tage nur ein Thema: den Mord an der demokratischen Symbolfigur Galina Starowojtowa vergangenen Freitag in St. Petersburg. Weder die Ankunft des Internationalen Währungsfonds in Moskau noch der Besuch des chinesischen Generalsekretär Jiang Zemin werden mit der üblichen Aufmerksamkeit verfolgt. Der Auftragsmord an Starowojtowa hat die russische Öffentlichkeit aufgerüttelt. „Der Mord“, sagte der bekannte Fernsehkommentator Nikolai Swanidse, „ist das erste Ereignis, wo kaum einer zweifelt, daß sie für ihre politische Aktivität den Preis bezahlte.“ Gestern wurden Forderungen laut, den Ausnahmezustand zu verhängen. Premierminister Primakow sagte, die Regierung werde keine diktatorischen Maßnahmen treffen.
Derweil zeigt die Gesellschaft deutlich jenen Riß, der sie seit jeher in zwei Lager zerfallen ließ. Die einen hofften mit Starowojtowa auf ein demokratischeres Rußland, die anderen halten an einem russischen Sonderweg fest, der immer klarer seine rot-braune Grundierung zeigt. Am Tag nach dem Mord tanzte Kommunistenchef Gennadi Sjuganow auf dem Kongreß patriotischer Organisationen vor laufenden Kameras. Die gesellschaftliche Schamgrenze ist überschritten. Der Tod der Bürgerrechtlerin hat die politische Landschaft Rußlands verändert.
In St. Petersburg einigten sich die Vertreter reformorientierter Parteien und Organisationen, bei den anstehenden Wahlen zur Stadtduma jeweils nur einen Kandidaten aufzustellen. Dazu gehören die Jabloko-Partei Grigori Jawlinskis, „Wahl Rußland“ – Organisation des Reformpremiers der ersten Stunde, Jegor Gaidar – und Sergej Schachrais Gruppierung „Einheit“. Ob das Beispiel auch auf der föderalen Ebene Schule machen wird, ist offen. Gaidar regte daher an, eine demokratische Volksfront zu bilden, um den reaktionären Kräften Widerstand zu leisten. Auch Reformer Anatoli Tschubais plädierte für die Gründung eines „aggressiven, zielorientierten rechten Zentrums“. Bisher konnten sich die reformorientierten Führungsfiguren aus persönlichen Eitelkeiten nicht auf ein konzertiertes Vorgehen einigen. Tschubais mahnte, nun sei der Moment gekommen, persönliche Sympathien beiseite zu lassen.
Die Zeit, die Kräfte zu bündeln, drängt. Noch lebt Präsident Jelzin. Sein Tod würde das Chaos verschärfen. Gestern wurde der Präsident mit einer akuten Lungenentzündung und 38,9 Grad Fieber in das Regierungskrankenhaus eingeliefert, wo er auch den chinesischen Gast empfing. Alexander Schochin, Fraktionschef der Partei „Unser Haus Rußland“, forderte vorgezogene Präsidentenwahlen. „Die Serie der Erkrankungen von Boris Nikolajewitsch zeugt von der Unfähigkeit, die präsidentiellen Verpflichtungen in vollem Umfang auszufüllen“, sagte Schochin. Derweil bemüht sich die Präsidialkanzlei, der Öffentlichkeit einen Kreml-Chef zu präsentieren, den die Kräfte noch nicht ganz verlassen haben. Der stellvertretende Leiter der Präsidialkanzlei, Oleg Syssujew, wandte sich in der Iswestija bereits an PremierJewgeni Primakow, er solle sich für die Übernahme des Präsidentenamtes bereit halten. „Er ist verpflichtet, sich als ein Präsidentschaftskandidat zu betrachten. Er muß sich darauf einstellen, jeden Moment in die Pflicht genommen zu werden, um die Verantwortlichkeiten des Präsidenten zu übernehmen.“ Stirbt Jelzin vorzeitig, übernimmt der Premier für drei Monate bis zu Neuwahlen das Präsidentenamt.
Heute findet in St. Petersburg die Beisetzung Galina Starowojtowas statt. Ihre Schwester Olga regte an, die Bürgerrechtlerin im Alexander-Newski-Kloster zu beerdigen. Die Vorsitzende der Helsinki-Menschenrechtsorganisation, Ludmilla Alexejewa, äußerte Zweifel, daß das Verbrechen aufgeklärt werde. „Ich bin mir absolut sicher. Starowojtowa hat den Weg zu vieler Leute gekreuzt, von Kommunisten, Nationalisten und sogar solchen, die formal dem demokratischen Lager angehören.“
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