: Die harten Zeiten kommen noch
Die Wirtschaftskrise hat Rußland fest im Griff. Die Menschen versuchen alles, um irgendwie über die Runden zu kommen. Dabei wissen alle: Es wird noch härter ■ Aus Podolsk Klaus-Helge Donath
„Schlimmer kann es nicht mehr kommen“, meint der Pessimist. „Doch, doch – wo denkst du hin“, hält der Optimist entgegen. Mangel an Witzen herrscht in Rußland nicht. Das periodisch von Krisen heimgesuchte Land verfügt über einen unerschöpflichen und stets wiederverwendbaren Vorrat an Humor. Inzwischen sind die meisten Russen Optimisten. Auch Alexander Burkow. Der Wirtschaftsleiter im Zentralen Krankenhaus in Podolsk, vierzig Kilometer südlich von Moskau, verwaltet täglich schwindende Vorräte. „Röntgenfilme, Spritzen und Antibiotika reichen noch zwei, drei Wochen“, sagt er, und Nachschub sei nicht zu erwarten.
250.000 Rubel schuldet das größte Provinzkrankenhaus Rußlands mit 1.600 Betten Arzneimittelgroßhändlern. 350.000 Rubel hat die Klinik durch die Abwertung im August selbst verloren. Die Hausbank ging pleite. Und auch die gesetzliche Krankenversicherung, die früher zumindest einen Teil der Behandlungskosten erstattet hatte, fiel der staatlichen Schatzwechselspekulation zum Opfer. „Die Katastrophe steht kurz bevor“, meint der ehemalige Industriemanager.
Dem stolzen Russen ist es peinlich, dem Ausländer die eigene Not zu gestehen. Dem kommunistischen System läßt sich die Schuld nicht mehr anhängen. Er errötet, am liebsten würde er sich wohl vor Scham zurückziehen. Wäre da nicht die Hoffnung, es könnten sich ein paar Spender finden...
„Kommen wir vielleicht mit weniger Präparaten aus?“ fragt die Mutter des kranken Wolodja die Apothekerin leise. Dann rechnet sie alles nochmals. Doch das Geld will nicht reichen, um wenigstens drei der fünf verschriebenen Medikamente zu kaufen. Sie bedankt sich, um beim Arzt Rat einzuholen. Importierte Arzneimittel sind seit Ausbruch der Krise um das Drei- bis Fünffache teurer geworden. Krankenhäuser versorgen nur noch Notfälle kostenlos, nur dann, wenn es um Leben oder Tod geht.
Ob in der Kleinstadt Podolsk, St. Petersburg, Wolgograd oder im sibirischen Krasnojarsk: die Lage im Gesundheitswesen sieht überall gleich verheerend aus. Der föderale Haushalt hat keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung gestellt, und Rußlands pharmazeutische Industrie ist nicht in der Lage, den Bedarf zu decken. „Millioneninvestitionen wären nötig, um in den veralteten oder stillgelegten Betrieben die Produktion wiederaufzunehmen“, schätzt Burkow. Selbst das würde das Übel nicht beheben, weil viele Medikamente in Rußland nie hergestellt wurden. In Sowjetzeiten stammten 80 Prozent der Pharmazeutika aus sozialistischen Bruderländern, die jetzt in Dollars bezahlt werden wollen.
Mit Einkaufstaschen und Tüten beladen strömen die Besucher in das Hospital. Geschirr scheppert, Flaschen klirren. Kranke sind auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen. „Wir können den Patienten gerade noch das Minimum an Kalorien verabreichen“, so Burkow. „Für Fleisch, Obst und Vitamine müssen die Kranken selbst sorgen.“ Ist der Zustand im Gesundheitswesen womöglich ein Vorbote? Die niedrigen Löhne zwingen das Personal, während und nach der Arbeit dazuzuverdienen. Sorgfalt und Hingabe leiden darunter, und nicht selten verleitet der Mangel zu unverantwortlichen Sparmaßnahmen. Wie in Nischni Nowgorod, wo die Patienten eines Spitals mit der tödlichen Hepatitis C infiziert worden sind. Einwegspritzen hatte man mehrfach verwendet.
Wolodjas Mutter Ljuba ist Lehrerin mit einem Lohn von 600 Rubel (60 Franken). Davon ernährt sie eine dreiköpfige Familie. Ihr Mann, klagt die Enddreißigerin, sei ein starker Trinker, nach kurzer Zeit würde er jedesmal seine Stelle verlieren. „Früher hat der Betrieb solche Leute noch mit durchgeschleppt.“ Daran sei heute nicht mehr zu denken, stöhnt sie. „Doch was nützt das Klagen? Ich bin weiß Gott kein Einzelfall.“
Russische Schicksalsergebenheit. Die Eltern helfen mit Gemüse, Eiern und Geflügel aus ihrem Garten. Und neue Kleider? Russinnen genießen den Ruf, noch modebewußter zu sein als die Pariserinnen. Den letzten Mantel hat sich Ljuba vor drei Jahren geleistet, Armut ist ihr dennoch nicht anzusehen. Geschäfte in Moskau spüren die sinkende Nachfrage, gerade Käufer aus der Provinz kommen seltener. Winterkleidung ist günstiger als im letzten Jahr, und die billigeren türkischen Textilien erobern den Markt zurück.
Ljubas Freundin Ludmilla Popowa arbeitet in der Nähmaschinenfabrik Singer. In besseren Zeiten beschäftigte der Betrieb 30.000 Arbeiter. Jetzt sind es noch 3.000. Die gelernte Ingenieurin war gezwungen, in den Wachschutz zu wechseln, wollte sie ihren Arbeitsplatz behalten. Sie macht kein Hehl daraus, daß sie sich erniedrigt fühlt. Doch die Krise sei nicht der richtige Zeitpunkt für Gefühle, meint die 45jährige. Die Kunst, Menschen zu verletzen und zu erniedrigen, hat Rußland bis zur Vollkommenheit entwickelt. Immerhin bekommt sie 500 Rubel Lohn und darf sich im betriebseigenen Sanatorium erholen.
Ohne das Einkommen ihres Mannes kämen sie nicht über die Runden. Drei Stunden verbringt er täglich in der Elektritschka, dem Vorortzug nach Moskau. Viele Podolsker pendeln. Ihr Mann verdient 2.500 Rubel und gehört damit zu den Besserverdienern. Vor der Abwertung entsprach das 500 Dollar. Statistiker errechneten, das reiche, um in Rußland das Leben eines Durchschnittseuropäers zu führen. Und heute, nachdem das Gehalt auf 160 Dollar geschrumpft ist? „Importierte Lebensmittel sind für uns fast tabu“, sagt Frau Popowa.
Im betriebseigenen Nähmaschinenladen, der einem Museum gleicht, kauft eine Kundin eine Art „Halbautomat“, dessen Design den fragilen Charme sozialistischer Gebrauchswertkultur ausstrahlt. Der Geschäftsführer verweigert indes die Auskunft, ob mit der Krise die Nachfrage gestiegen sei oder Frauen wieder mehr selbst schneiderten. Für die Fabrik immerhin eine Chance... Dem Chef behagt die Fragerei nicht. Seine Gereiztheit ist auch eine Form der Scham.
Der Import nach Rußland ist seit August um mehr als die Hälfte gesunken. Großstädte wie Moskau und Petersburg bezogen vor der Krise drei Viertel der Lebensmittel aus dem Ausland. Noch sind die Geschäfte voll, mit Jahresbeginn wird sich das Angebot jedoch ausdünnen. Familien wie die Popows können es sich nicht mehr leisten, importierte Lebensmittel für den doppelten oder gar dreifachen Preis zu kaufen.
„Obst und Gemüse“, erzählt eine Moskauer Marktfrau, „gehen nur noch in Miniportionen weg.“ Man ist zudem preisbewußter geworden und hat Ansprüche heruntergeschraubt. „Hauptsache billig“, sei die neue Devise, ermittelten Marktforscher, „auf Qualität kommt es nicht mehr so an.“ Für heimische Produzenten eine gute Nachricht. Der Markt ist offen.
Ohnehin empfanden Verbraucher in letzter Zeit Nostalgie für frühere Produkte, stellten Soziologen fest. Vereinzelt haben Firmen auch schon davon profitiert. Die Experimantalfabrik Balabanow, die Zündhölzer herstellt, mußte zum Dreischichtbetrieb übergehen. Erstmals seit Jahren erhält die Belegschaft pünktlich ihren Lohn. Sogar russische Fernseher der Marken Rekord, Rubin und Orbita – Ladenhüter, die vornehmlich Rentner in der Provinz kauften – finden Abnehmer in den Städten.
Selbst Milchprodukte und Käse aus heimischen Käsereien tauchen wieder in den Regalen auf. Ansehnlich verpackt und durchaus genießbar. Wohlgemerkt, noch sind es Einzelerscheinungen. Der Lebensstandard wird indes weiter sinken. Die Auswirkungen der Krise haben noch nicht alle Sektoren der Gesellschaft erfaßt. Besonders in den Großstädten muß sich die neue Mittelschicht – Handwerker, Ladenbesitzer und Angestellte im Handel und Dienstleistungsgewerbe – mit Jahresbeginn auf härtere Zeiten gefaßt machen. An die 40 Prozent haben ihren Job verloren oder sind in unbefristetem Urlaub. Allein 20.000 junge Männer, die im Wachschutz tätig waren, sitzen inzwischen in Moskau auf der Straße – ein Unruhepotential. Ohne Einkommen könnten sie schnell die Seite wechseln.
Wer indes seinen Job in der freien Wirtschaft behalten konnte, mußte Lohnkürzungen bis zu 60 Prozent hinnehmen. Die meisten taten es, ohne zu murren. Die Mittelschicht – bislang umstritten, ob es sie überhaupt gebe – erwies sich als breiter als vermutet. Es sind diese jungen Leute, die am meisten durch die Talfahrt einbüßen – neben der materiellen Existenz auch die Hoffnung auf ein zivilisierteres Leben. Die Privatschulen spüren es schon. Eltern melden ihre Kinder ab. Jeder Dollar wird auf die hohe Kante gelegt. Muß ein Auto angeschafft werden, fällt die Wahl auf den „vaterländischen“ Lada.
Dennoch hat die Krise auch in dieser Schicht etwas Positives bewirkt: Plötzlich entwickeln die bisher Desinteressierten politisches Bewußtsein. Allein der Zeitungsverkauf hat sich vervierfacht, die seriösen Blätter sind morgens im Nu vergriffen. Politische Magazine verbuchen höhere Einschaltquoten als Spielshows. Ob es ihnen aber auch gelingt, aus dem gemeinsamen Interesse eine einflußreiche politische Kraft zu formen?
Eine bange Frage. Das Millionenblatt Argumenti i fakti richtete eine neue Rubrik ein: „Durchkommen ohne Geld“. Mehrköpfige Familien, die von bescheidenen Renten leben, schildern, wie sie durch strikte Haushaltsführung und Früchte ihres Gartens noch ein halbwegs menschenwürdiges Dasein fristen. Die Selbstgenügsamkeit, der fatale Minimalismus bei den Ansprüchen verhindern Wandel und Fortschritt. Letztlich zementieren sie die ewige Trennung von Staat und Gesellschaft. Indes droht keine Hungersnot, auch wenn die Importe ausbleiben.
Wo sich 75 Prozent der Bevölkerung seit je vom eigenen Stück Land ernähren, bedeutet Armut nicht Lebensmittelknappheit. Der Speiseplan wird einseitiger, doch Mangelernährung bleibt vornehmlich ein Phänomen der Regionen des Nordens. Und daran sind Transportprobleme und das unterentwickelte Verteilungssystem schuld. Die aus Eigennutz Rußland aufgedrängte humanitäre Hilfe westlicher Agrarlobbies wird in die wirklich bedürftigen Gebiete nicht gelangen, solange Moskauer Bürokraten die Verteilung übernehmen.
Eigentlich bräuchte Rußland keinen Weizen. Trotz schlechter Ernte exportiert es in diesem Jahr sogar noch Getreide. Die sogenannte Hilfe dürfte sich bald als ein Danaergeschenk entpuppen. Die korrupte Bürokratie stopft sich die Taschen voll, während inländische Produzenten auf ihrem billigen Weizen sitzenbleiben. Am Ende macht die Hilfe eines der wenigen positiven Momente der Rubelabwertung noch zunichte: die langsame Wiederbelebung der landwirtschaftlichen Produktion.
Ein Teufelskreis, der junge Fachkräfte aus dem Lande treibt. Der Andrang vor den westlichen Botschaften hat spürbar zugenommen. Gibt es ein Entrinnen? Der russische Humor kennt zwei Alternativen. Die optimistische: Außerirdische kommen und lösen die Krise. Die pessimistische: Rußland rettet sich selbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen