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■ Markiert der Streit um Walsers Rede ein neues Kapitel deutscher Geschichtspolitik? Der Versuch eines ResümeesDie Zukunft der Vergangenheit

Was bisher geschah: Martin Walser hat in seiner Frankfurter Rede kritisiert, daß Auschwitz als „Moralkeule“ benutzt werde. Ignatz Bubis konterte mit der Formel, daß Walser ein „geistiger Brandstifter“ sei, der den Rechtsextremen zuarbeitet. Klaus von Dohnanyi verteidigte Walser und verhakte sich mit Bubis in einen heftigen Disput, den das FAZ- Feuilleton mit einem Aufruf zur Mäßigung von Richard von Weizsäcker zu beenden suchte. Was bedeutet dieser Zwist? Das letzte Nachhut-Gefecht der untergehenden Nachkriegszeit? Bloß explodierende Eitelkeiten alter Männer? Oder einen programmatischen Streit, der die endgültige Normalisierung deutschen Selbstverständnisses einläutet?

Die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik bewegte sich bislang, grob skizziert, in einem Links-rechts-Schema. Unter Adenauer wurden die Nazi-Eliten in die neue Republik integriert. Den (Post-)68ern blieb die Aufgabe, einen bekenntnishaften, abstrakten Antifaschismus zu einer Art bundesrepublikanischen Staatsdoktrin zu machen. Spätestens seit der Ausstrahlung der „Holocaust“- Serie 1979 wurde immer mehr gemahnt, erinnert und gedacht. Doch diese öffentlichen Inszenierungen standen in einem seltsam kompensatorischen Verhältnis zu dem Schweigen, das in den Familien herrschte.

Diese westdeutsche Gedenkkultur, die immer wieder nachträgliche rhetorische Bewältigungsrituale auf die Tagesordnung setzte, erwies sich als überaus wetterfest. Nach 1989 prophezeiten viele, daß Deutschland, nun glücklich zum normalen Nationalstaat geworden, die NS-Vergangenheit zu einer Art Betriebsunfall bagatellisieren werde. Nichts davon. Es gehört zur Dialektik der Lage, daß jeder Versuch, eine Normalisierung herbeizureden, die vereinten Gegenkräfte auf den Plan ruft. Auch daß nach dem Gedenkjahr 1995 das große Schweigen einsetzen würde, bewahrheitete sich nicht. Im Gegenteil: Der Erfolg von Daniel Goldhagen zeigte, daß nach wie vor ein ungestilltes Bedürfnis existiert, sich angesichts einer Erzählung der Nazi-Greuel kathartisch seiner selbst zu vergewissern.

So war es – bleibt es so? Es gibt eine Reihe von Indizien, daß diese Vergangenheitspolitik ein Auslaufmodell sein könnte. Denn nun sind die 68er an der Macht – der Generalverdacht gegen einen Kanzler, der eine Kollwitz-Pieta als universelles Symbol für die Schrecken der Nazi- und Kriegsvergangenheit durchsetzen wollte, entfällt. Kanzler Schröder ist die deutsche Vergangenheit herzlich egal – und niemand stört das. Die Links-rechts-Mechanik, die das Getriebe der Erinnerungspolitik bildete, ist seit dem 27. September außer Kraft gesetzt. Der konservativen Regierung schaute man stets auf die Finger bei ihren Bemühungen, Deutschland außen- und militärpolitisch zu normalisieren. Rot- Grün, so die These von Andrej Markovits, kann dies leichter gelingen. Joschka Fischer, hochreflektierter Vertreter jenes Post- 68er-Antifaschismus, ist als Feindbild schlicht unbrauchbar. Die Neurechten wollten die NS-Vergangenheit stets mit einem Schlußstrich beenden; sie brauchten die Entsorgung der Geschichte zwingend, weil sonst der Weg zur selbstbewußten Nation mit Großmachtanspruch verriegelt war. Doch gerade der Versuch, die NS- Geschichte zu relativieren, bewirkte, wie der Historikerstreit in den 80ern exemplarisch zeigte, stets das Gegenteil.

Walsers Angriff richtet sich gegen jene abstrakte, antifaschistische Rhetorik des Erinnerungsbetriebes (freilich ist die Kritik so alt wie der Betrieb selbst). Doch es geht ihm nicht um die Kritik der immer gleichen Bilder ausgemergelter Häftlinge, die wie Worte zu Floskeln werden können, zu Betroffenheitschiffren, sondern um eine Abkehr vom öffentlichen Gedenken insgesamt – um eine Art Ontologisierung des individuellen Gewissens als einzig möglicher Ort der Erinnerung. Der politische, symbolische Raum erscheint so als ein per se untaugliches Terrain authentischer Erinnerung.

Jedes öffentliche Sprechen über Auschwitz sei instrumentell, kritisiert Walser. (Warum spricht der Dichter darüber selbst öffentlich?) Vergangenheitspolitik ist tatsächlich niemals völlig von aktuellen Zwecken zu trennen. Das Washingtoner Holocaust Museum zeigt die USA als Hort der Verfolgten aus Europa. Jad Vaschem in Jersualem inszeniert die israelische Staatsgründung als Lehre aus dem Holocaust, als Klimax und Katharsis. Kollektive Erinnerung, in der Gesellschaften sich ihrer Geschichte und Legitimation vergewissern, ist stets kanonisiert. Das Wesen öffentlicher Erinnerung ist das Über-Individuelle, das Mittelbare, die rhetorische Pathos-Formel, die durch kein aktuelles Gefühl, durch keine Subjektivität gedeckt sein muß. Sie darf „Lippengebet“ sein.

Doch Walser will Gefühl, Subjektivität, wahre Empfindung, nicht Analyse, Reflexion, kollektive Form. So stellt er sich in die unselige deutsche Tradition eines unpolitischen Individualismus. In dieser Rede kommt ein endlich von den Fesseln universalistischer Intellektualität befreites Ich zur Sprache: kleinteilig und scheinbar bescheiden auf eigener Wahrnehmung beharrend. Trotz dieser Beschränkung aufs Ich geht es um das Ganze: um das Recht der Deutschen wegzuschauen. Sounds like Junge Freiheit.

Deshalb hat Ignatz Bubis Walser schon richtig mißverstanden. Die Diskreditierung allen öffentlichen Sprechens über Auschwitz, die kokette Andeutung, daß Berichte über rechtsextreme Gewalt vielleicht auf das Konto übereifriger medialer Gutmenschen gehen, der Ton der 50er, in dem von unserer Schande, nicht aber von Verbrechen die Rede ist – all das summiert sich zu einem Generalangriff auf die Erinnerungspolitik. Wenn Gedenken nur als private Gewissensbefragung möglich ist – heißt das nicht, so Bubis, daß die öffentliche Erinnerung an den Holocaust zu einer Privatsache der Juden wird, die den Rest nichts mehr angeht? Ja, das heißt es.

„Es genügt ein Blick auf ein Auschwitzbild, und jeder gesteht sich wenigstens ein: Wir sind nicht damit fertig. Egal, was du machst, du kannst es nicht delegieren. Ich möchte immer lieber wegschauen von diesen Bildern. Ich muß mich zwingen hinzuschauen. Wenn ich mich eine Zeitlang nicht gezwungen habe, merke ich, wie ich verwildere. Und wenn ich mich zwinge hinzuschauen, merke ich, daß ich es um meiner Zurechnungsfähigkeit willen tue.“ So Walser noch 1979, bei einer Rede zur Eröffnung einer Ausstellung, die Zeichnungen von Häftlingen aus Auschwitz zeigte. Heute lautet die Antwort anders. Walsers Umschwung deutet einen Bewußtseinswandel im liberalen Bürgertum an. Gleichwohl wäre es töricht, auf Walsers Traum von einem mit sich selbst versöhnten, von keinen Gedenkpeinlichkeiten mehr gestörten Deutschland mit einem argumentativen antifaschistischen Schutzwall zu antworten, mit dem „Nie wieder“ aus dem Antifa-Inventar. Wichtiger ist es, das Unbehagen in der Gedenkkultur (das Walser nicht entdeckt, sondern bloß instrumentalisiert hat) zu reflektieren. Wichtiger ist es, eine offene Erinnerungspolitik zu modellieren, die zukünftig auch Deutschen türkischer, kurdischer oder bosnischer Herkunft etwas zu sagen hat. Die Erinnerungspolitik wird, mit und ohne Walser, universalistischer. Sie wird in dem Maße, in dem Täter und Opfer verschwinden, mediatisiert. Die Nazizeit rückt in die Ferne, sie wird, biologischer Logik folgend, historisiert, sie wird an Prägekraft für die politischen und nationalen Selbstdefinitionen verlieren.

Ob gerade Rot-Grün diesen Prozeß reibungslos in den Walserschen Traum von einem Deutschland, das endlich normal sein darf, münden lassen wird? So wie nur die SPD den Sozialstaat radikal verändern kann und nur rechte Likud-Regierungen Friedensverträge mit den Feinden Israels schließen können? Die Entdramatisierung deutscher Vergangenheit als unintended effect der rot-grünen Regierung – das wäre eine originelle Pointe der an dialektischen Wendungen reichen Geschichte deutscher Erinnerungspolitik. Mag sein, daß auch diese Befürchtung, wie schon viele zuvor, voreilig ist. Gewiß ist: Die fundamentale Veränderung deutscher Geschichtspolitik wird nicht mit einem Donnerschlag geschehen, sondern still und unmerklich. Stefan Reinecke

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