piwik no script img

Champagner und Terrorkreuz Von Ralf Sotscheck

Lilly war ihr ganzes Leben lang eine tiefgläubige Katholikin gewesen. Ihr Haus war mit Kreuzen, Weihwasserbehältern und anderen Devotionalien bestückt, auf der Toilette hing ein Bild von Papst Johannes Paul II. Er war ihr siebter Papst, seine sechs Vorgänger hatte sie überlebt, denn Lilly war schon über 80.

Morgens betete sie ihre Rosenkränze, abends ging sie zur Messe. Darüber hinaus hatte sie eine Liste von Gebeten, die sie wie eine Einkaufsliste täglich nach Erledigung abhakte. Es waren besondere Gebete, zugeschnitten auf die Sünder in Familie und Freundeskreis, für die sie Gnade erflehte. Dazu gehörten ihre fünf Kinder, die schon lange keine Kirche mehr von innen gesehen hatten. Lilly war mit ihrer Religion vielbeschäftigt.

Dann stand eines Tages eine Frau vor der Tür, die im Haus gegenüber wohnte. „Du bist keine Christin“, zischte sie der entsetzten Lilly ins Gesicht, „ich habe ein Kreuz aufgehängt, damit du bekehrt wirst.“ Es hing in ihrem Schlafzimmerfenster im ersten Stock und füllte den gesamten Rahmen aus – es mußte eine Sonderanfertigung sein, noch dazu mit weißer Leuchtfarbe angestrichen, so daß es bei Nacht in der Luft zu schweben schien.

Die arme Lilly litt sehr unter dem Terrorkreuz. Der Nachbar riet ihr, die Missionarin und ihr leuchtendes Werkzeug nicht ernst zu nehmen, sie sei verrückt. „Aber wie kann ich es ignorieren“, meinte Lilly, „wenn mich das Kreuz jedesmal anstrahlt, wenn ich den Vorhang aufziehe?“

Ob sie aus Gram gestorben ist, weiß man nicht. Jedenfalls ging es seit der Kreuzerscheinung mit Lilly bergab, die Familie mußte mit dem Schlimmsten rechnen. Der Pfarrer saß mit dem Handy am Ohr in den Startlöchern, um ihr die Sterbesakramente zu verpassen. Weil man sie nicht unnötig erschrecken wollte, wartete man damit jedoch, bis sie selbst nach dem Priester schickte. Drei Tage vergingen, Lilly dämmerte im Halbschlaf vor sich hin, den Pfarrer erwähnte sie nicht.

Dann, am vierten Tag, richtete sie sich plötzlich im Bett auf und rief nach ihren Kindern. Jetzt ist es soweit, dachten die, sie will die Sterbesakramente. Weit gefehlt. „Mary“, rief Lilly ihre älteste Tochter, „Mary, komm her.“ Und Mary setzte sich zu ihrer alten Mutter Lilly ans Bett. „Mary, ich habe in meinem ganzen Leben nie Champagner getrunken.“

Die Kinder hatten vorgesorgt, so glaubten sie: Vom Rosenkranz aus bestem Sandelholz über Marienbildchen bis hin zu heiligem Wasser aus Lourdes war alles parat. An alles hatten sie gedacht, nur auf weltliche Gelüste waren sie nicht vorbereitet.

Champagner? Woher in der Nacht nehmen? Die Getränkehandlungen waren längst geschlossen. So schwärmten Kind und Kegel in die Nachbarschaft aus und klingelten die Leute aus den Betten. Es sei ein Notfall, erklärten sie, und daher sehr dringend – man wolle Lilly den letzten Wunsch erfüllen. Aber welcher Ire hat schon eine Flasche Champagner in Reserve?

Das Unglück wollte es, daß Lillys Neffe Joe am Haus gegenüber klopfte, denn er wußte nichts vom Bekehrungseifer der Kreuzritterin. Für die war der Fall klar: „Sie stirbt und verlangt nach Champagner“, schnaubte sie verblüfft. „Ich wußte, daß sie keine Christin ist.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen