piwik no script img

Bergsteigen in BremenSidewalk Memories

■ Neunte und vorletzte Folge: Warum unser Alpinist vorübergehend den Faden verliert

Sie erinnern sich? Schön für Sie. Ich erinnere mich an gar nichts. Irgendwann wachte ich auf einem Gröpelinger Bürgersteig auf, mit einer wässrigen Paste im Mund, die vor Urzeiten einmal ein Kaugummi gewesen sein mochte. Zu meiner Linken lag ein bärtiger Penner, zu meiner Rechten ein bärtiger Hund. Beide schnarchten.

Ein grünweißer Lastkraftwagen brauste heran. Ich suchte schon nach meinem Ausweis, um ihn den Ordnungsverhütern vorzuzeigen, als ich stutzig wurde. Das war kein Polizeifahrzeug. Zwei Männer in Latzhosen hatten sich hinten am Auto festgeklammert; nun sprangen sie herunter, liefen zielstrebig auf zwei Mülltonnen zu, hängten diese auf eine Vorrichtung, die an der Heckseite des grünweißen Lastkraftwagens befestigt war und betätigten einen Hebel, der mit einem Ventil in den Leitungen eines kompressorgespeisten Hydrauliksystems verbunden war; was zur Folge hatte, daß die Mülltonnen sich selbst in das Innere des Lasters entleerten. Die Tonnen wurden an ihren Platz zurückgestellt, dann fuhr der Lastkraftwagen mit den daran befestigten Latzhosenträgern davon. Ich weiß, es klingt verrückt, aber so ist es an jenem Morgen geschehen, das schwöre ich bei George Shearing!

Ich starrte ins Leere und dachte über dieses Ereignis nach. Ich erinnerte mich an die Mülltonnen meiner Kindheit. Wir wohnten auf dem Land. Mein Vater war mit unserem einzigen Nachbarn verfeindet. Mein Vater und der Nachbar sahen sich nur, wenn sie zufällig zur selben Zeit den Müll runtertrugen. Eines Tages brachte mein Vater ein Namensschild an unserer Mülltonne an, weil er es leid war, daß die Tonnen verwechselt wurden, und des Nachbarn Müll in unserer oder unser Müll in seiner Tonne landete. Mein Vater schrieb unseren Namen auf ein Stück Papier und überklebte es mit Tesafilm, um es gegen den Regen zu schützen. Am nächsten Tag hatte die Mülltonne des Nachbarn auch ein Namensschild. Es war aus goldenem Metall, verziert durch eine Gravur, Schönschrift. Mein Vater zog sich für einen Tag in die Garage zurück, und am nächsten Morgen flimmerte unser Name in Digital-Laufschrift von der Tonne. So ging es ein Jahr lang hin und her, bis die Mülltonnen zu ferngesteurten Kampfrobotern mit eingebauten Kameras mutiert waren.

Tja, kleine Momente aus der Kindheit; zarte Momente, flüchtig. Fragmente, Bruchstücke, Scherben ... ich, Kind, finde eine Glasscherbe an dänischem Strand, fünfmarkstückgroß, geschliffen vom Sand der Gezeiten, feuchtes, scheinendes Grün (Beryll oder Alexandrit?), der Vater sagt: „Wirf's weg, ist eh nur Glas.“ Das Kind ist enttäuscht; holt zum Wurf aus, will das Plagiat dem Meer übergeben; hält inne; senkt den Arm; öffnet die Hand; betrachtet das schimmernde Kunstwerk, Koproduktion von Mensch und Meer; steckt es in die Hosentasche; ist erstaunt darüber, daß es der Aufforderung des Vaters nicht nachkommt, erahnt undeutlich so etwas wie die Bedeutsamkeit dieser Handlung, die Form der Scherbe, vielleicht; Brandung, Wind. – – – Sieben Jahre später, im Garten des Elternhauses, Frühling; dem Jungen sprießen die ersten Barthaare; er kniet unter einem Rhododendronbusch, die Finger in den grünen Maschendrahtzaun gekrallt; beobachtet die Nachbarstochter beim Schaukeln; sie trägt ein leichtes Kleid; um Schwung zu holen, streckt sie die Beine; das Kleid bauscht im Wind, der Schlüpfer blitzt für Bruchteile von Sekunden; der Junge addiert die Bruchteile, damit er später vor seinen Freunden prahlen kann, den Schlüpfer einige Minuten lang gesehen zu haben; aber da fällt sein Blick auf etwas anderes; der Leberfleck auf ihrem Oberschenkel, fünfmarkstückgroß – der Junge läuft ins Haus, die Treppe hinauf, in sein Zimmer, zieht eine Pappschachtel unter dem Bett hervor, wühlt darin; Zwille; Pyrocracker; Vogelfedern; Taschenmesser; Papierschnipsel, bedruckt mit nackten Frauen; findet die grüne Glasscherbe, steckt sie in die Hosentasche; sieht durchs Fenster, wie das Mädchen die Gartenpforte schließt und im Kornfeld hinter den Häusern verschwindet – er läuft raus in den Garten, ihr nach, folgt dem vorgetretenen Weg, holt sie ein, findet sie sitzend; atemlos greift er in die Tasche, zeigt ihr die Scherbe; sie sieht ihn verwundert an, zieht dann ihr Kleid ein Stück empor; er legt die Scherbe auf den Leberfleck, fühlt warme Haut an den Fingerspitzen; der erste Kuß; Wind peitscht das Meer aus Korn – – –

Misty water-coloured mem'ries, like the corners of my mind. Ja, meine Liebe zu Julia war groß; aber unsere Väter waren verfeindet und darum bemüht, unsere Beziehung mit allen Mitteln zu verhindern, was sich konkret darin äußerte, daß ihre Terminator-Mülltonnen uns auf Schritt und Tritt verfolgten, darauf programmiert, jede unserer Annäherungen zu unterbinden. Die Mülltonne meines Vaters hieß Mercutio, die des Nachbarn Tybald und das Thema bei Andreas Türck heute morgen war: „Was ist nur aus dir geworden?“ Tim Ingold/F.: A.K.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen