: Dorthin, wo nichts ist
Josef Sudek galt als seltsamer Kauz, als Träumer und altertümlicher Lichtbildner. Von der Politik ließ sich der Prager Fotograf nicht vereinnahmen. Lieber fotografierte er die beschlagenen Fensterscheiben in seinem Studio. Ein neuer opulenter Bildband dokumentiert sein Werk ■ Von Ulf Erdmann Ziegler
In einem Buch über Künstlerkauze müßte dieser Mann einen prominenten Platz einnehmen: Josef Sudek, der im Frühjahr 1896 in Kolin an der Elbe geboren wurde und im Herbst 1976 in Prag starb. Als Soldat der österreichisch-ungarischen Monarchie verlor er im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm; er erlebte die Besatzung durch die Nazis, die kommunistische Herrschaft seit 1948, den Einmarsch von Sowjets (und DDR-Deutschen) in Prag 1968. Er hat nie geheiratet, seine engste Mitarbeiterin war seine jüngere Schwester Bozena, und als Atelier diente ihm über viele, graue Jahre hinweg – bis 1958 – eine Holzbaracke, deren Ausblick durch ein mehr oder weniger beschlagenes Fenster zu seinem fotografischen Leitmotiv wurde.
Als er weitere Räume bekam, behielt er sein wackliges Atelier. Sudeks Art von Expansion ging langsam vonstatten. Aber der Nachlaß war gigantisch. Und nun ist Anna Farovas große Monographie von 1995 auch auf deutsch erschienen. Farova, die den Fotografen schon in den fünfziger Jahren kennenlernte, ist zweifellos die kompetenteste lebende Zeitzeugin in Sachen Sudek. Und ihr Buch sichert ihm seinen Platz als Monolith in der systematischen Landschaft moderner Fotografie.
Wer Sudeks Arbeit nur flüchtig kennt, wird ihn für einen Träumer halten, einen altertümlichen Lichtbildner, der mit schwerem fotografischen Gerät in nebligen Gärten unterwegs war, um weiße Möbel zum Leben zu erwecken, oder unter sanften Lichtern so lange an einem gewöhnlichen Wasserglas drehte, bis es sich schließlich wie das Modell eines Kristalls in die lichtempfindliche Platte senkte.
Tatsächlich war er elegisch, manchmal romantisch und fast immer introspektiv – aber nicht, weil er nicht wußte, was um ihn herum vor sich ging, sondern weil er sich nicht verstricken lassen wollte. Als die Nazis im Anmarsch waren, entwandt er sich den Avancen des Berufsverbands, und als das „Zentrale Nationalkomitee der Hauptstadt“ ihm 1954 den Jahrespreis verleihen wollte, ließ er wissen, er könne „zu keiner Versammlung erscheinen“ und werde statt dessen „Fotografien von Prag“ schicken. Auf einem Panoramabild verewigte er ein einsames Tor in der Landschaft; daß dies der Rest eines stalinistischen Lagers war, ahnten die Zeitgenossen wohl schon.
Dieses Bild fehlt übrigens in dem vierhundertseitigen Band, aber solche Auslassungen sind unvermeidbar. Josef Sudeks Werk ist umfassend, so reich, daß man mit einzelnen Serien ganze Bücher machen könnte und vielleicht auch machen wird. Noch – noch versucht man, das Ouvre zu packen. Allein Favoras biographische Studie, mit sehr sorgfältig ausgesuchtem Bildmaterial, umfaßt hundertfünfzig Seiten.
Im Anschluß findet sich die erste Strecke des Tafelteils, die Sudeks früher, piktorialistischer Fotografie gewidmet ist und mit über vierzig Seiten vielleicht etwas zu lang geriet. Bündiger schließlich die dreißiger Jahre: Anhand weniger Beispiele erkennt man, daß er ein neusachlicher Werbefotograf von Geschmack war. Durch beide Phasen steht Sudek noch im Bann gültiger Stile.
In „Diana und Nikon“, einem aufregenden amerikanischen Essayband, behauptet Janet Malcolm, daß sich die „moderne“ Fotografie vom Piktorialismus – der Imitation von Drucken und Gemälden im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts – bei weitem nicht frei gemacht habe. Ganz im Gegenteil sieht sie eine ästhetische Kontinuität, durchaus auch in der kühnen Objektwelt Edward Westons.
Für Josef Sudek müßte man sagen, daß er den großen Schrecken über die eigenen geschmackvollen Irrtümer vielleicht am schnellsten überwunden hat und überzeugend zu dem Schluß kam, daß verstellte Aussichten, glimmende Lichter und zerfressene Spiegel der fotografischen Abbildungen keineswegs unwürdig waren, unabhängig davon, ob D-Day war oder Mondlandetag. Sudek, der nicht weit reiste, deklinierte den Kosmos vor der Haustür: Zen in der Kunst, aus dem Fenster zu schauen. Dabei traf er einen universalen Nerv.
Auf akkurat gebauten Hochformaten ist die feuchte Fensterscheibe scharfgestellt – ein Motiv des Übergangs, ein Effekt etlicher Spielfilme. Man erkennt eine dunkle Häuserflucht, unscharfe Gerätschaft. Manche Objekte schlucken Licht, manche haben einen matten Schein, und helle Flächen sind fahl, glänzend, schimmernd, leuchtend oder opak. Schwarze Schnüre auf der Innenseite des Fensterglases verschärfen das taktile Moment.
Es ist gar keine so absurde Idee, sich vorzustellen, Sudek säße als homo obscurus im Balgen seiner Plattenkamera und schaute – nicht durch das Objektiv, das die Welt auf den Kopf stellen würde, sondern – durch die Mattscheibe hinaus, rückwärts. Also gewissermaßen dorthin, wo eigentlich nichts ist. Aber das ist das Großartige an der Fotografie, daß es ein Nichts nicht gibt. Ein Haus gegenüber wird innerhalb der Serie „Fenster meines Ateliers“ zu einer Burg mit Augen, zu einer Art Seelenampel. Das Fensterbrett, traditionell Lagerplatz für Objekte, ist Ort präziser, bisweilen geradezu gigantesker Stilleben.
Die Arbeit in Serien zeigt, daß Sudek nicht Ansichten häufte, sondern Einsichten modifizierte: zu schlichten Topoi wie „Prager Gärten“ und „Anmerkungen zur Elblandschaft“ kamen „Erinnerungen“ und „Labyrinthe“.
Labyrinthisch wurde es bei Sudek gewissermaßen von selbst, weil die Verwaltung des Materials, der belichteten Platten, der Prints, der Bestellungen, der Korrespondenz und des gepflegten Alltags unter Freunden dem alternden Fotografen zunehmend entglitt. Das unglaubliche Chaos seines Ateliers wiederum war ein Jahrzehnt lang (von 1963 bis 1972) Gegenstand der Serie „Labyrinthe auf meinem Tisch“. Was im Alltagsleben überaus unpraktisch gewesen sein mag, wurde fotografisch zu einer phantastischen Ordnung verdichtet.
Josef Sudek war ein besessener und innovativer Handwerker, der in der Dunkelkammer jedem Motiv seine spezifische Form verpaßte. Mal ließ er um das Bild einen fetten schwarzen Rahmen stehen, mal einen schmalen; er balancierte zwischen Warm- und Kalttonigkeit; sogar die grobe Entstellung klassischer Fotografien durch antiquarische Rahmen hat er unserem Zeitgenossen Esko Männikkö vorweggenommen. Die Monographie nutzt das große Format, um auf erstklassigem, matt schimmerndem Papier im Elfenbeinton die Techniken und Stile wiederzugeben – ohne Protz und ohne Kompromiß.
Die vierfarbigen Lithos aus Prag, der Satz in München, Druck und Bindung in Mailand: Dieses Buch ist ein europäisches Gesamtkunstwerk. Daß der kleine Verlag von Gina Kehayoff dieses extrem aufwendige Werk – betreut durch offensichtlich kompetente Lektorinnen – so stolz, überlegt und ohne zu sparen in eine golden gebundene deutsche Fassung gebracht hat, ist ein rares Exempel verlegerischen Unternehmertums.
Josef Sudek hat sich letztlich gegen das sozialistische Kunstideal durchgesetzt: Seine Stilleben, Stadtlandschaften und Waldfotos haben mit proletarischer Erbauung nichts zu tun. Ein Arzt in New York, Dr. Brumlik, sammelte seine Fotografien – Sudek ließ sich im Gegenzug mit Schallplatten beliefern, von gregorianischen Chorälen bis hin zu Stockhausen. Nach dem Tod von Sudeks treuer Schwester Bozena im Jahr 1990 hat Anna Farova das Atelier aufgeräumt, in dem sich, in Zeitung verpackt, auch die Urne mit Sudeks Asche fand.
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