: Nicht nur ein Museum der Trauer
Wie läßt sich die Judenverfolgung darstellen und begreiflich machen? Während in Deutschland über ein Holocaust-Mahnmal und über die Zumutungen des Erinnerns gestritten wird, gibt es in New York City seit einem Jahr ein Museum der jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Das „Museum of Jewish Heritage“ veranschaulicht nicht nur die versuchte Auslöschung des Judentums, sondern auch die Zeit vor und nach der Shoah. Eindrücke ■ von Gunda Wöbken-Ekert
Wie soll sie die Angst beschreiben? Wie in Worte fassen, was ein zwölfjähriges Mädchen in Auschwitz fühlt? Ein intelligentes Mädchen, das weiß, nach den dortigen Regeln wäre es längst tot. Kinder sind unnütz. Ihre Körper sind zu schwach, um sie durch Arbeit zerstören zu können. Ein polnisches Mädchen, dem die Angst Kraft gibt, zwei, drei Stunden, den Zählappell über, auf Zehenspitzen zu stehen. Um größer zu wirken, erwachsener. Das dem Tod immer wieder ausweicht, zweimal direkt vor den Augen Josef Mengeles, des KZ-Arztes.
Ein Mädchen, das nicht entkommt, nur entwischt, für morgen und für die nächsten Wochen. Das sich immer fürchtet, den schrecklichsten der Tode zu sterben. Noch heute schreit das Mädchen nachts auf, weil es von diesem Block träumt. Und sinkt, wenn es sich der Realität vergewissert hat, als Siebenundsechzigjährige in das Kissen zurück. In Brooklyn, New York.
Auf einem der schönsten Flecken der Stadt, am südlichen Rand des Battery Parks, gegenüber der Freiheitsstatue, erzählt ein Museum die Geschichte von Bronia. Und von vielen anderen. Am 15. September vorigen Jahres ist das „Museum of Jewish Heritage“ eröffnet worden. Fünfzig Millionen Dollar hat es gekostet, vier Fünftel der Summe kamen als Spenden zusammen, den Rest hat die Stadt mit dem Grundstück zur Verfügung gestellt. Auch die laufenden Kosten von neun Millionen Dollar finanzieren sich zu mehr als zwei Dritteln privat, eine Million kommt von der Stadt, anderthalb Millionen bringen Eintritte und der Museumsladen ein. Rund 150.000 Menschen haben es seit der Eröffnung besucht, allein in den ersten Monaten kamen drei- bis viertausend Besucher pro Woche.
Sechseckig ist es, mit einem sechsteiligen Dach, dem Davidstern nachempfunden – eine Erinnerung an die sechs Millionen Ermordeten. Um sie geht es in dem tausend Quadratmeter großen Bau. Doch es geht auch um die Geschichte der Juden, um ihre Religion, ihre Gottesdienste, ihre Feiertage. Und um ihr Weiterleben nach Hitler. Es ist ein Museum der Trauer, und gleichzeitig lautet die Botschaft: Die Juden sind nicht bloß Opfer.
Als Bronia die Anzeige in der Zeitung las, mit der das Museum Ehrenamtliche suchte, hat sie sich sofort gemeldet. Auch als Holocaust-Überlebende. Doch vor allem, weil sie sich für Judaistik interessiert, sich viel mit der Geschichte der Juden, mit der Thora beschäftigt. Sie ist in ihrem Element, wenn sie Besuchern die Sukkah im Erdgeschoß erklärt, zwei Zeltbahnen, bemalt mit biblischen Motiven und einst genutzt als Tuchumspannung für die Laubhütte einer ungarischen Familie zum Laubhüttenfest. Bronia ist nicht die einzige, die hier ihre eigene Geschichte findet. Mehrere der ehrenamtlichen Helfer waren im KZ. Auch viele der rund achthundert Ausstellungsstücke, die in den zwölf Jahren vor der Eröffnung gesammelt wurden, stammen von ehemals Verfolgten.
Zu fast jedem Thema erzählen in Videofilmen Menschen über dieses Leben. Wie sie Hochzeiten gefeiert haben und Gottesdienste. In breitem Ostfriesenenglisch stellt ein Mann seine Heimatstadt vor, „my little hometown Aurich“, und seine Großeltern, abgelichtet in stolzer Positur vor ihrem kleinen Antiquitätenladen. Eine Frau erzählt von ihrem Urgroßvater, der als erster Jude an der Hamburger Börse zugelassen wurde. Einer anderen merkt man noch Jahrzehnte später an, wie sehr sie als Kind den Sabbat genossen hat.
Weiter in den ersten Stock. Er ist dem Holocaust gewidmet. Wieder erzählen Menschen. Zum Teil dieselben wie im Erdgeschoß. Nun erst erkennt der Besucher, daß es Überlebende sind, die zu ihm sprechen. Der schnauzbärtige Mann, der eben noch die Bedeutung der Synagoge für seine Familie als „das Zentrum unseres gesamten Lebens“ geschildert hat, erzählt nun, wie er als Kind von seinen Eltern verschickt wurde: „Sie planten, mich außer Landes zu bringen. Am 31. Januar 1939, drei Wochen nach meinem elften Geburtstag...“ Seine Stimme erstickt im Schlucken: „Sie schickten mich weg.“
David Altshuler leitet seit zwölf Jahren das Museumsprojekt. Er sagt: „Den Besuchern muß erlaubt sein, emotional zu reagieren und nicht nur intellektuell, doch man darf sie nicht beeinflussen. Sie müssen ihre eigenen Schlüsse ziehen können.“ Ein Holocaust-Museum sei dies nicht, „sondern eine Bildungseinrichtung. Wir wollen die jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts vermitteln, aber darin ist die Shoah natürlich ein wichtiger Bestandteil.“
Die Selbstbeschreibung stimmt, nimmt man allein die Raumfläche. Das Museum ist gedrittelt. Erstes Drittel, Erdgeschoß: die Geschichte der Juden in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. Im zweiten Drittel „Hitlers Krieg gegen die Juden“, der Aufstieg des Diktators, die Rassenlehre, die Verfolgung und Vernichtung. Und schließlich die Jahre nach 1945, die Einwanderungswellen nach Israel. Die Versuche der Juden, auch in Ländern wie Südafrika, Australien, Rußland ihre Traditionen zu erhalten. Amerika als ein neues Zentrum des Judentums. Erbitterte Diskussionen um verschiedene Glaubensrichtungen, um die Rolle der Frauen.
Warum aber verläßt der Besucher dieses Gebäude mit dem Gefühl, den Holocaust neu erfaßt, überhaupt erst begriffen zu haben? Vielleicht, weil er fühlt, was er bisher nur wußte. Die Hölle begann nicht erst in in den Ghettos und in Auschwitz. Sie begann, als ein Junge zu seinen Spielkameraden lief, und sie ihm sagten: „Hau ab, du Dreckjude!“ Sie begann, als ein Mädchen seinen Eltern das Lied vorsang, das ihm der Schlachter beigebracht hatte: „Stellt die Juden an die Wand.“
Und vielleicht, weil es Menschen sind, die dem Besucher mit ihren Erzählungen dieses Gefühl vermitteln. 24 Dokumentarfilme hat die New Yorker Firma Rainmaker produziert, und in beinahe allen berichten Überlebende. Dokumentiert von Steven Spielbergs Shoah-Stiftung, die seit Jahren ihre Zeugnisse festhält. Natürlich gibt es auch Schautafeln, Erklärungen. Doch wenn man den alten Mann erzählen hört: „Wir sagten dem Dienstmädchen, wir würden wie gewöhnlich um halb acht zurück sein. Doch wir hatten nicht vor, wiederzukommen. Wir ließen alles zurück“, erfährt man mehr. Welches Foto kann ausdrücken, was eine Auschwitz- Überlebende mit langsamen, leisen Worten sagt: „Ich spürte die Asche auf meiner Haut und fragte mich: Ist das die Asche meiner Mutter, meines Vaters, meiner Geschwister?“
Nichts erschlägt die Gefühle der Besucher. Wenn alte Frauen europäische Synagogen wiedererkennen, wenn sie halblaut die Hetzparolen in Kinderbüchern, Zeitungen und auf Plakaten lesen, wenn sie vor einem versilberten Brotmesser für das Sabbatbrot stehen und eine in einem englisch-deutschen Wortmix sagt: „Das haben wir auch zu Hause gehabt, exactly such one“, durchzieht den christlich aufgewachsenen deutschen Besucher auch ein Schmerz über den Verlust einer unwiederbringlichen Verbundenheit.
Für Museumsleiter Altshuler sind die verschiedenen Reaktionen nur erfreulich, weil sie seinen Grundsatz bestätigen, „den Besuchern Raum zu geben, ihr eigenes Leben in das Museum einzubringen“. Dazu gehört die Familiengeschichte. Julie Salamon, amerikanische Autorin, deren Großeltern in Auschwitz umgekommen sind, schrieb in der New York Times: „Ich sprach das Totengebet in Auschwitz. Ich stand vor Holocaust-Mahnmalen überall in der Welt. Ich war traurig, doch nirgends fand ich, was ich so verzweifelt suchte: ein Gefühl der Kontinuität und gleichzeitig die Verbindung zur Vergangenheit.“ Das New Yorker Museum erlebte sie anders: „Ich saß dort, dachte an die Fotos, die ich von meinem Großvater Marcus Salamon hatte, und an meine Großmutter, die ich aus ihren liebevollen Briefen kenne. Und ich dachte mir, sie würden diesen Platz lieben. Ich werde hierher zurückkommen.“
Dieses Museum kann Trost spenden. Auch Überlebenden wie Bronia. Was künftige Generationen hier an sie erinnern wird, ist nicht ausschließlich zwischen Stacheldraht und Gleisen zu finden. Ist nicht nur der Ort, von dem sie sagt: „Du solltest nun endgültig kein Mensch mehr sein.“ Der ihre Todesstätte werden sollte. Dem sie verzweifelt zu entkommen suchte, „weil ich ihnen das nicht zugestehen wollte. In Rauch aufzugehen, ohne eine Geschichte, ohne ein Grab.“ Und dem sie schließlich entkam, weil eine Mitgefangene sie wie ihr Kind behütete.
Und es ehrt die Toten. Menschen wie Bronias Vater, von dem sie mit Liebe und Achtung spricht. Ein Rabbiner wie sein Vater und Großvater. Aber zugleich ein Philosoph, ein Poet. Der, weil er so voll war von Gedanken und Leben, lieber ein Geschäft betrieb, als Rabbiner zu sein.
Für die schwarzhäutige Schülerin in der Ausstellung haben die Ermordeten ein Antlitz bekommen. Ihr laufen die Tränen über die Wangen, als sie in einem Video über die Kinder das vorgelesene Gebet der elfjährigen Liliane hört, das mit dem Wunsch endet: „Gott. Bring meine Eltern zurück. Laß sie mich wiedersehen, nur einmal noch. Ich vertraue dir so sehr, daß ich dir schon im voraus danken kann.“ Sie starb in Auschwitz. Dadurch, daß in diesem Museum andere Kinder um sie weinen können, ist sie kein numeriertes, anonymes Opfer mehr. In Erinnerung bleiben ihre Worte, bleibt ein Mädchen.
Gunda Wöbken-Ekert, 39, ist Juristin. Sie lebt als freie Journalistin in Bremen
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