: Vier Iren für ein Halleluja
Eine Popband ohne Pop: U2 nahmen in den Achtzigern den Sound der neuen Mitte vorweg, beweist der aktuelle Sampler ■ Von Harald Peters
Im Sommer 1962 bringen Iris und Bobby Hewson ihren zweijährigen Sohn Paul ins Krankenhaus zur Untersuchung, weil der Kleine seit der Geburt Tag und Nacht schreit. Sämtliche Beruhigungsversuche waren fehlgeschlagen, die geplagten Eltern wissen sich nicht mehr zu helfen. Ihre Nerven liegen bloß. Sieben Tage später lautet die Diagnose, Paul sei kerngesund. Wieder daheim, schreit er weiter. Später soll es sein Lebensinhalt werden. Als Bono Vox wird Paul berühmt.
Was als Kindergebrüll begann, triumphierte bald auf den Stadionbühnen dieser Welt. Mit mildem Jammern und angetäuschter Rebellion veredelten U2 die Disziplin Pathosrock und führten sie einem Massenpublikum zu. Daß damit in Hipster-Kreisen kein Staat zu machen war, ist logisch. U2 waren in den frühen Achtzigern das exakte Gegenteil von Culture Club, Scritti Politti und den anderen. Nicht so clever wie ABC, nicht so gebildet wie Heaven 17, nicht so betrunken wie die Pogues. Nicht sexy, nicht wild. Sie waren mausgrau-kreuzbrave Spät-Waver, die zum Baum der Erkenntnis pilgerten und warteten, daß der Blitz einschlägt. In einem Interview mit Spex diktierte Bono Jutta Koether 1985 aufs Band: „Sieh dir diese Hände an... es sind die Hände eines Arbeiters, eines Mannes, der Steine trägt“, und wies auf seine schwieligen Finger. Wer es feinsinnig und subtil mochte, mußte U2 hassen.
Doch mit der Zeit verschwimmen die Unterschiede. Mischt man heute „Pride“ und „With Or Without You“ unter „Karma Chameleon“ und „Last Christmas“, fallen die irischen Klagelieder kaum auf. U2s Plattenfirma hat pünktlich zum Weihnachtsgeschäft die Zeichen erkannt und einige Singles samt B-Seiten aus der Zeit vor U2s postmoderner Wendung zu einer goldschimmernden Compilation zusammengekehrt. Was beim Hören davon hängenbleibt, sind eine Handvoll guter Songs und ein gelassenes Kopfschütteln über eine tatsächlich seltsame Band.
Vier Jungs gründen aufgrund eines Aushangs am Schwarzen Brett ihrer Schule eine Band, können nichts, aber wollen viel. Sie sind allesamt tief gläubig, identitätskrisengeschüttelt und hin und her gerissen zwischen den Konfessionen. Ihren Unmut gießen sie in drei Akkorde und stehlen sich später in ihre Besinnlichkeit. Ließ sich wahres Christentum mit Rock 'n' Roll vereinbaren? Einmal war Gitarrist The Edge so von diesem Konflikt ergriffen, daß er die Karriere für immer an den Nagel hängen wollte. Einige Glaubensbrüder seiner Schalom-Gruppe, der Charismatic Christians – außer Bassist Adam Clayton waren hier alle Mitglied –, hatten ihm geflüstert, daß der rechte Weg nicht hinter dem Verstärker zu finden sei. Edge ging in Klausur und kroch mit „Sunday Bloody Sunday“ wieder hervor. U2 verständigten sich darauf, daß ihr Weg nicht der einer herkömmlichen Rockband sein kann, daß sie von den Begleiterscheinungen des Ruhms ablassen müssen. Gier und Hemmungslosigkeit waren verboten. Kein Sex, keine Drogen, keine Exzesse.
Das Rock-oder-Beten-Dilemma blieb der Hauptantrieb ihrer Arbeit. In der Not kombinierten sie beides und verlegten den Gottesdienst auf die Bühne. Die Band bildete dabei nur die Kulisse für Bonos Paraderolle. Wenn er über die Bühne sprang, auf Boxen kletterte, sich rücklings ins Publikum fallen ließ, dann war das Teil seiner Predigt. Mal schien er verletzt, dann trotzig, dann wieder verwirrt, um wenig später selbstbewußt aufzutrumpfen und die weiße Fahne zu schwenken.
Wie alle guten Demagogen weiß Bono um sein Charisma und die alles entscheidende Bedeutung im Wechsel des Ausdrucks, des Tempos und der Gestik. In seinem Roman „American Psycho“ läßt Bret Easton Ellis seinen Romanhelden Patrick Bateman ein U2-Konzert besuchen und erzählt: „Doch als ich mich setze, erblicke ich etwas Merkwürdiges auf der Bühne. Bono kommt über die Bühne, folgt mir zu meinem Platz, starrt in meine Augen (...), und plötzlich übermannt mich eine gewaltige Woge von Gefühlen, ein Rausch der Erkenntnis, ich kann in Bonos Herz sehen (...), und ich spüre, daß mir der Sänger etwas mitteilt. (...) Und die Botschaft (...) wird jetzt immer deutlicher (...) und ich höre sie, ich spüre sie sogar, kann selbst die verschwommenen, orangefarbenen Lettern der Botschaft über Bonos Kopf entziffern: ,Ich ... bin ... der ... Teufel ... und ich bin ... genau ... wie ... du ...‘“ Bono gab den Zuschauern das Gefühl, nicht allein zu sein. Ja, man litt ebenso am Unrecht dieser Welt, man war auch betroffen von Martin Luther King, Irland und den Nachrichten. U2 mußten eine Stadionrockband werden, ihr Pathos, ihre Gesten brauchten Bühnen in Cinemascope. Als sie den Status erst mal erreicht hatten, konnten sie nur noch größer werden.
Dabei war alles, was sie taten, sagten und sangen, ernst gemeint. Es gab kein So-Tun-als-ob. Emphase und Sendungsbewußtsein – alles echt. U2 waren in den Achtzigern die größte Popband ohne Pop. Kein Wunder also, daß U2 in dem popverliebten Jahrzehnt eine beliebte Zielscheibe der Kritik waren. Kein Wunder auch, daß man sie fälschlicherweise mit dem Rockbrocken Bruce Springsteen verglich. Doch wo es Springsteen um Freiheit ging, er die Erfüllung des amerikanischen Traums einklagte und sich in diesem Sinne Reagan-Amerika verweigerte (nachzulesen in den Textblättern von „Nebraska“), ging es U2 um Schicksal. Sie wurden zwar als politische Band gehandelt, doch waren sie nur insofern politisch, als sie diffus für das Gute und irgendwie gegen das Schlechte waren. Eine Ansage auf ihrem Live-Album „Under A Blood Red Sky“ lautete: „This is not a rebel song, this is: Sunday Bloody Sunday.“ Ihnen ging es nicht um eine Sache, sondern ums Gefühl. Sie wollten nicht die Welt ändern, sondern sie wollten die Welt in sich verändern. U2 waren antiaufklärerisch, sie waren also schon damals die neue Mitte.
Seit ihrem Debüt „Boy“ haben U2 ständig über jugendliche Selbstfindungsprobleme gesungen, als sie älter wurden, wandten sie sich endgültig dem Christentum zu, das, richtig ernst genommen, die Garantie für ewige Kindheit bedeutet. Daß ein hübsch verletzlicher Junge die Cover von „Boy“, „War“ und der aktuellen „The Best Of 1980–1990 & B-Sides“- Compilation ziert, ist daher nur folgerichtig. U2s Message war: Die Welt ist groß, grausam und furchteinflößend, doch Spiritualität hilft Leiden lindern. Schließlich braucht man eine höhere Ordnung, an die man sich bei all dem Drunter und Drüber anständig ranklammern kann.
Es mag fürchterliche Anstrengungen und Mühen kosten, dieser Selbstfindung durch Glauben in Form von U2-Platten etwas abzugewinnen, und ohnehin mag all das fundamentaler Unfug sein, doch im Rückblick scheint es so harmlos, so unschuldig naiv wie Billy Idols Haargel oder die Schulterpolster von Spandau Ballet. Trotz hartgesottener Authentizität und bedeutungsschwangerem Gedöns sind die U2 von damals genauso ein Pop-Phänomen wie ihre Mitbewerber aus den Achtzigern, mit ihnen ist kein Distinktionsgewinn mehr zu machen.
Heute sind U2 eine Band, die verbissen der Zeit hinterherrennt und die ihr Arbeitsfeld der Identitätssuche um die Sparte spektakuläre Kostümwechsel erweitert hat. Viele Jahre nach Steve Strange und Boy George, aber noch vor Jarvis Cocker und dem Glamrock- Revival entdeckte Bono die Vorzüge des Androgynen, kleidete sich in Glitter und malte sich das Gesicht mattweiß. Es folgten die Disziplinen Medienkritik (Zooropa), Rock plus Dance (Pop) und ultimativer Bombast (Popmart- Tour – die größte Bühne der Welt!). Dann waren sie wieder die bodenständige Festkapelle, die zum Friedensschluß in Irland aufspielte und sich von Pavarotti zu „Miss Sarajewo“ begleiten ließ. Von Album zu Single wechselten U2 in den Neunzigern ihr Auftreten. Aus dem jugendlich aufgeregten „Wer zum Teufel bin ich?“ ihrer Anfangstage wurde ein „Was zum Teufel soll ich?“ von Rockern mit vorgezogener Midlife-Crisis: Im Ergebnis nicht mehr nur furchtbar gefühlig und daher ein bißchen peinlich, sondern im Gegenteil zunehmend lächerlich und ganz handfest absurd.
U2: „The Best of 1980–1990 & B-Sides“ (Island/Mercury)
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