Steinerne Moden

Vom Staatsarchiv zur Ehrenrettung: Das zehnte Jahrbuch der „Architektur in Hamburg“ ist seriös und spannend wie ein gut ediertes Journal  ■ Von Kees Wartburg

Was sollte ein Architekt wissen? Wie man eine „schöne“ Fassade mit dem Computerprogramm generiert? Wie ein Grundriß aussehen muß, damit der Küchenabzug nicht ins Kinderzimmer führt? Ob er auf seine Außenwände lieber Putz oder Backstein packt? Wahrscheinlich denken die meisten Architekten so, und wahrscheinlich ist auch deshalb die meiste Architektur Banane. Denn für keine Profession gilt der Satz „Wer nur was von seinem Beruf versteht, der versteht auch davon nichts“ so sicher wie für Architekten. Ihr Dienst tangiert derartig viele menschliche Bedürfnisse und wird von so ungemein vielen Faktoren beeinflußt, die es, wenn nicht zu beherrschen, so doch zu bedenken gilt, daß die einfache Zufriedenheit mit dem netten Hausentwurf mit der Versetzung an die Betonmischmaschine bestraft gehört.

Wie sich Lebensgefühl an einem bestimmten Ort am besten entfaltet, sollte für den Baumeister mindestens eben solch ein Objekt intensiver Betrachtung sein wie die Frage nach ökologischen Bauweisen. Oder was man der Öffentlichkeit an Aufenthaltsqualität mitvermacht, kann eigentlich nicht weniger interessant sein als die Frage, wie man Mami vor Sohnemanns Techno via Grundriß am besten schützt oder wie man das Desinteresse der meisten Menschen an der Schönheit des Details für einen Gewinn an Ästhetik ausnutzt. Politik, Stadtentwicklung, das Verhältnis von Tradition und Innovation, Verkehrsbelange, Nachbarschaftlichkeit und Lichtführung, Klima, Selbstdarstellungswille und die Unterscheidung von Mode und Dauer sind ein paar weitere der unzähligen Faktoren, die den Hausbau beeinflussen und den schlechten Architekten zum Wiederholungstäter machen. Wer soviel nicht bedenken kann, der baut Häuser eben nach der einfachsten Rechenart: Grundriß mal Fassade. Und hält das im schlimmsten Fall auch noch für schön.

Eine Publikation, die sich mit dieser Profession beschäftigt, sollte also auch etwas mehr abbilden als den mehr oder weniger gelungenen Entwurf. Das Architekturjahrbuch für Hamburg, mittlerweile zehn Jahre der Vergil für Hamburgs irdische Architekturkomödie, leistet dies auf einem sehr seriösen Level. Im Stil eines gut edierten Journals versammeln die Jahresbände in nur wenig modifizierter Form sowohl Kritiken zu einzelnen Architekturerzeugnissen wie Reflexionen über steinerne Moden, soziologische Beiträge zur Stadtentwicklung wie Foto-Essays zu scheinbar peripheren Entscheidungen, Stadtteil-, Architekten- und historische Porträts, Hintergrundgespräche mit Senatoren und dem einen Oberbaudirektor oder Gedanken über verschiedene Felder urbaner Komplexität. Mit ausgewiesenen Autoren und dem Anspruch an Vermittelbarkeit über die Architektenschaft hinaus hat diese Buchreihe Erfolgsgeschichte geschrieben und Nachahmer gefunden.

Der Jubiläumsband setzt diese Traditionen fort. Von der intensiven Betrachtung des neuen Staatsarchivs von Alsop & Störmer bis zur Ehrenrettung des André Poitiers, dessen Glaskonstruktion über der vergrabenen Sporthalle in Halstenbek von ihm nicht verschuldet einstürzte und die Qualität dieses Gebäudes unter dummdreistem Gespött von Boulevardpresse und Provinzhanseln begrub, reicht das Spektrum diesmal. Ausführlich werden die Pläne zur neuen Hafencity debattiert, der gerade zuständige Senator Willfried Maier wird ins Kreuzverhör genommen, und die Reihe mit den Porträts von Hamburgs Partnerstädten sammelt diesmal die postmodernen Perlen von Osaka ein. Von dem Mann, der Hamburg nach dem Großen Brand einen Stempel aufsetzte, Alexis de Chateauneuf, zu den unbestrittenen Stars der neuen Hamburger Architektur, Bothe, Richter, Teherani, wird ein Bogen über 200 Jahre Hamburger Baugeschichte geschlagen.

Interessant, spannend, vielgestaltig. Nur manchmal auch ein wenig zu seriös. Lediglich der Grand-seigneur der deutschen Architekturkritik Manfred Sack erlaubt sich in „Lob des Staubes“ etwas augenzwinkernden Spott, wenn er ein Lied auf die Patina des Rathauses singt, deren Abtragung zum Jubiläum die bisher unbemerkte Häßlichkeit erst zutage treten ließ. Eine Sammlung der notwendigsten Abrisse, eine Stilkritik der Durchschnittlichkeit und ihrer Topoi oder Betrachtungen darüber, warum das tollste Leben meist in der unansehnlichsten Architektur tobt, würden die erhabene Ernsthaftigkeit des Periodikums überaus bereichern. Denn schließlich gehört alles, was zum richtigen Leben gehört, auch zur Architektur, also auch zu ihrem Feuilleton.

Hmb. Architektenkammer (Hg.): Architektur in Hamburg. Jahrbuch 1998, Junius Verlag, 190 Seiten, 68Mark