■ H.G. Hollein: Geben & Nehmen
Die Frau, mit der ich lebe, greift gern zu. Ich habe das nicht gern. Vor allem, wenn ich esse. Schließlich lebe ich nicht in einer derart exponierten Stellung, daß ich eine – wenn auch überaus attraktive – Vorkosterin brauche. Trotzdem stößt bei gemeinsamen Restaurantbesuchen der Gefährtin diebische Gabel jedesmal in mundräuberischer Absicht auf meinen Teller herab, kaum daß derselbe mir dargereicht wurde. Ein Broccoli-Röschen hier, eine Krokette da, und wehe, das Schweinemedaillon ist klein genug, um in schnellem Zustoß von einer Tischseite auf die andere gehebelt zu werden. Von besonderer Perfidie sind die Offerten, mit denen mir die Gefährtin in scheinbarer Selbstlosigkeit die Bestandteile des eigenen Gerichts zu überlassen vorgibt. Was um alles in der Welt soll mir ein Happen Thunfischsteak zwischen zwei Bissen einer Lammkeule? Als gewitzter Gefährte begegne ich derartigen Anmutungen gelegentlich damit, vorgeblich auf just das gleiche Appetit zu verspüren wie mein gieriges Gegenüber. Zwei steile Stirnfalten und eine sich ins Mürrische verlierende Konversation lassen diesen pfiffigen Schachzug allerdings nur geraten sein, wenn ich in kontemplativer Selbstschau den einen oder anderen tiefen Gedanken wiederkäuen will. So bin ich mit den Jahren in meiner Not zum eher geschwinden Esser geworden. Daß mir die Gefährtin daraufhin vorwirft, ich böte ob meines Schaufelns einen nicht eben ästhetischen Anblick, nehme ich in Kauf. Aber mir vorzuhalten, ich sei unsozial, litte gar unter einem wölfischen Einzelkindsyndrom, finde ich denn doch ein wenig an den Kausalitäten vorbeianalysiert. So dulde ich mich demütig durch Vorspeise, Zwischengang und Hauptgericht, bis mir – endlich – bei der Nachspeise Genugtuung wird. Nach dem ersten Löffel einer fetten Mousse muß die Gefährtin nämlich regelmäßig passen und überläßt mir ihre Portion mit einer – zugegeben gekonnten – Geste fürsorglicher Entsagung.
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