piwik no script img

Monotones Hüpfen von Schanzentischen gilt eigentlich als langweilige Randsportart. Das Neujahrsskispringen von Garmisch-Partenkirchen ist jedoch, dem Datum sei Dank, seit Jahrzehnten ein Ritual, eine Art deutsches Fernseh-Aspirin: Millionen nüchtern dabei aus. Dazu paßt, daß einer der ersten Sieger, der Finne Hemmo Silvenoinen, 1955 erst die Neujahrsnacht durchzechte, anschließend völlig verkatert an den Start ging – und gewann. Erklärungsversuche von Bernd Müllender

Höhenflüge mit Tiefgang

Am Neujahrstag, jedes neue Jahr neu, gibt sich dieses Land einem seltsamen Ritual hin: Millionen Menschen, jung oder alt, kaum des Mittags mühsam aufgestanden, verfolgen in der Glotze, wie milchgesichtige Hasardeure mit speziellen Langbreitbrettern fast senkrecht steil einem „Schanzentisch“ entgegenrasen, den richtigen Absprungmoment erwischen und dann möglichst weit und elegant Richtung Tal segeln. Neujahrsskispringen in Garmisch-Partenkirchen heißt das. Nach „Dinner for One“ abends zuvor nun der hochfliegende Lunch for everyone.

„Ssssssssst – wusch – aaaaaaah – das geht weeeeiiiit runter – ein bißchen muß er korrigieren – plock – Telemark sehr sauber, ja... – 113,5 Meter. Jetzt die Haltungsnoten. 18,5 Punkte. Ob das reicht? Ja, das ist die Führung nach dem ersten Durchgang...“

Kaum wen interessiert wirklich, von nationalen Reflexen abgesehen, wer bei dieser Randsportart gewinnt. Eigentlich ist es Langeweile pur: Einer nach dem anderen stürzt sich in die Tiefe, aber kaum einer, der mal richtig abstürzt. Kein Rhythmuswechsel, kaum Spannungsbögen. Und wehe, es geht plötzlich richtig ab, dann wird die Jury wegen zu großer Weiten über den „K-Punkt“ (kritischer Punkt) sofort den Anlauf verkürzen. Dramaturgisch ein Debakel, aber so beliebt. Ein Phänomen. Mal sechs, mal zehn Millionen sehen zu. Warum dieses Interesse? Vordergründig ist da das Faszinosum Fliegen. Kaum sonstwo ist ein Mensch ohne technische Hilfsmittel so lange so weit so spektakulär in der Luft. Aber bei den drei anderen Terminen der Vierschanzentournee – auch bei Olympia oder einer WM – ist das Interesse am Brettln- Hüpfen deutlich geringer.

Wichtig ist der Tag davor. Vor allem die durchfeierte Nacht. Neujahrsspringen ist eine gemeinschaftliche, durch hohen Alkoholkonsum bedingte Familienwiederbelebungsmaßnahme. Oder kurz: „Entkaterungsprogramm“. So nennt Peter Leissl, der zuständige ZDF-Sendeleiter, sein TV-Aspirin: „Man kann das so nebenher gucken, und der Kopf wird klarer.“ Der Fernsehsessel als Ausnüchterungszelle. Daß der ZDF-Reporter Stefan Bier heißt, paßt eher, als daß es stört.

Leissl benennt „den rituellen Charakter“ und den „selbstverstärkenden Effekt“. Heißt: Man guckt, weil alle gucken. Und alle können dann mitreden. Wie früher, als alle aus Sendermangel zwangsweise das gleiche ferngesehen hatten. 36 Prozent Marktanteil hatte die ARD am Neujahrstag 98 – „ein richtiger Quotenbringer“, wie Leissl sagt. Oder: „Wer Garmisch hat, hat das große Los.“

Jede Generation hat ihre speziell eingebrannten Erinnerungen an Jugendhelden: erst Max Bolkart, Lars Grini, Heini Ihle, dann der elegante Thoralf Engarn gegen den Kampfesburschen Björn Wirkola (Seriensieger 1967 bis 1969). Oder Yokio Kasaya, Jiři Raska, Karl Schnabel, Walter Steiner („der Herrgottsschnitzer“), Matti Nykänen. Die Österreicher Toni Innauer und Andreas Goldberger gegen die deutschen Adler. Anfangs sprangen sie alle noch mit den Armen vorweg, dann preßten sie sie an, mit jedem Jahr wurde der Körper etwas tollkühner nach vorn gestreckt, und plötzlich, seit Jan Bokloev 1988, stellten alle um auf diesen fledermausartigen, aerodynamisch gespreizten V-Stil. Jens Weißflog war Olympiasieger 1984 und piepst heuer TV-Kokommentare. Nykänen soff sich später halbtot, Goldberger kokste sich zeitweilig aus der Weltelite.

Alles ändert sich – in der Summe wird es Tradition. Seit 1952/53 wird vierschanzengesprungen und seit 1956 im Fernsehen übertragen. Schnell wurde das Springen zu einem der ganz großen TV-Sportklassiker. Und der Deutsche liebt seine Gewohnheiten. Das Neujahrsspringen als verspätete Böllerrakete. Vielleicht ist da auch ein melancholischer Moment in den ersten nüchternen Stunden: „Mensch, schon wieder ein Jahr älter geworden...“ Und da ist die große Symbolik des neuen Jahres: der gute Rutsch, die vorgegebene Spur verlassen, abheben, hochfliegende Pläne, Neues erreichen (siehe Interview).

Garmisch ist vor allem ein TV- Ereignis. Vor Ort ist es dasjenige Springen mit der geringsten Zuschauerresonanz aller vier, mit der mäßigsten Stimmung, der schlechtesten Akustik, den geringsten Weiten. Kaum VIPs lassen sich sehen (und die armen Sender haben keine zu interviewen). Leissl klagt: „Die haben genug zu tun mit dem eigenen Befinden, bleiben in München oder sonstwo und gucken wahrscheinlich selbst.“ Nicht mal Politiker tauchen auf, kein Landesvater Stoiber, niemand.

Same procedure as every year? Nur noch ein einziges Mal. Denn morgen steht das vorläufig letzte öffentlich-rechtlich zelebrierte Neujahrsspringen an. Ab 1.1. 2000 übernimmt RTL. Sportchef Manfred Loppe sagt, er habe „Premium-Qualität“ eingekauft und will die jetzt „veredeln“. Kosten: 44 Millionen Mark für drei Jahre Gesamttournee, „eine sehr quotenträchtige Veranstaltung mit Event- Charakter“, die „immer schon ein ganz großer Wunsch des Senders“ gewesen sei und jetzt „mit modernen Ideen gestaltet werden“ soll. Etwa Helmkameras? Genaues verrät RTL-Sprecherin Simone Danne nicht, beruhigt allerdings: „Die Regeln werden wir nicht ändern.“

Seit gestern ist eine Mobilfunkfirma für geschätzte vier Millionen per annum neuer Generalsponsor der Tournee. Ob Thoma, Schmitt und Hannawald bald live per Handy aus der Luft kommentieren? Schon ab dem Dreikönigsspringen in Bischofshofen sind die Flieger unterwegs nicht mehr allein: Eine Kamera am Seil saust vorweg. Gut, daß damit nicht am Neujahrstag gestartet wird: den Verkaterten zu Hause würde womöglich kotzübel.

Doch bei allen Neuerungen: Überall in Groß-Skilandien gehört das Springen weiterhin zum 1.1. wie Bleigießen zur Nacht davor. Lenk in der Schweiz pflegt sein Neujahrsspringen von der abendlichen Wildhornschanze, in Seefeld/ Tirol geht es ebenso runter wie beim Sportverein Bayrisch Eisenstein, wo man, auch 1999 noch, um die „Gaumeisterschaft“ springt.

Doch Neujahrsspringen klart nicht nur angeschlagene Sinne, es verwirrt auch klaren Geist: Die renommierte Züricher NZZ überschrieb am Montag einen Bericht von einem weihnachtlichen Skispringen „Sieg beim St. Moritzer Neujahrsspringen“. Nach dem Motto: Wenn Skispringen, dann muß wohl Neujahr gewesen sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen