: Ein goldener, rettender Käfig
Margrit Korge wurde von ihrer jüdischen Mutter ins Internat gebracht und verlassen, von den Nonnen versteckt und gemaßregelt, vom Nazi-Großvater gerettet und geprügelt. ■ Von Philipp Gessler
Schwarzes Leder kann die Berlinerin Margrit Korge nicht ausstehen. Schwarz und aus Leder waren die Mäntel der Gestapo-Männer, die 1942 immer wieder ihr Charlottenburger Internat durchsuchten, um solche wie sie zu finden: jüdische Kinder oder Erwachsene – versteckt von Nonnen, die das Internat leiteten und auch nach dem Krieg nie über ihr Geheimnis sprachen. Sie nahmen es mit ins Grab.
Daß die lebensgefährliche Rettungstat der Schwestern 50 Jahre nach Kriegsende überhaupt ans Licht kam, liegt an Margrit Korge. Den Nonnen verdankt die 68 Jahre alte Pensionärin ihr Überleben in der Nazizeit. Geschützt wurde sie darüber hinaus von ihren jüdischen Großeltern mütterlicherseits, bis diese 1941 deportiert wurden. Danach wurde sie vom Großvater väterlicherseits versteckt, der ein Nazi war – eine traurige, verrückte Geschichte.
Sie begann 1937 an einem Frühsommertag. Ihre jüdische Mutter Else brachte die siebenjährige Margrit an die braune Kassettentür des Internats „Maria Regina“ der Schwestern Unserer Lieben Frau. Die in einem feinen Kostüm gekleidete, schwarzhaarige Mutter schob Margrit samt Ranzen und Kinderpuppe in den dunklen, holzgetäfelten Flur der Jugendstilvilla. Die Nonnen haben die Kleine bereits erwartet.
Ohne Abschiedswort verschwand die Mutter sofort wieder. Margrit begriff, daß sie hier allein bleiben soll, trommelte gegen die Tür, wälzte sich am Boden. Nur noch zweimal trafen sich Mutter und Tochter vor dem Krieg: einmal zu einer Fotositzung, dann beim Abschied. 1939 floh Margrits Mutter vor den Nazis in die USA. Erst sieben Jahre später konnte Margrit wieder Kontakt mit ihrer Mutter aufnehmen. Es dauerte 40 Jahre, bis sie Else in Amerika wiedersah: Noch heute ist Margrit Korge erschüttert, daß die Mutter ihre drei Hunde mitnahm, aber nicht ihr einziges Kind.
Margrits „arischer“ Vater Kurt, Redakteur einer Berliner Tageszeitung, hatte sich bereits 1935 von seiner Frau getrennt. Er ließ Else mit Margrit allein. Nur ab und an holte die Tochter vom Vater Schecks für die Mutter und sich ab. Kurt meldete sich nur selten bei ihr. Er starb 1945 beim Bombardement Dresdens. Ob ihre Mutter noch lebt, weiß Margrit nicht – die letzte Karte kam vor einem Jahr aus den USA.
In bitterem Ton erzählt Margrit Korge noch heute von ihrer Geschichte, auch vom früheren Internat in der Charlottenburger Ahornallee 33. „Ein goldener Käfig“ sei es gewesen, mit einem Park ums Haus, einer großen Terrasse dahinter, daneben Tennisplatz und Schwimmbad. Gespeist wurde mit Stoffservietten und Silberbesteck auf Messerbänkchen. Wer seine Kinder hierher schicken konnte, hatte Geld. Der jüdische Großvater Salomon Kalman, ein Stoffgroßhändler aus der Großen Frankfurter Straße in Mitte, finanzierte Margrits Heimaufenthalt, solange er konnte: Ein Monat im Internat kostete soviel wie das Gehalt eines einfachen Beamten.
Doch in all dem Luxus fühlte sich Margrit als Außenseiterin. Sie erzählt, wie sie von ihren Eltern „keine religiöse Prägung“ erhalten hatte und davon, daß die Nonnen natürlich wußten, daß sie nicht getauft war. Dabei wollte Margrit wie alle anderen gern zur geheimnisvoll-feierlichen Beichte und wie die Mitschüler auch bei der tägliche Messe eine Hostie bekommen. Doch die Nonnen ließen das nicht zu. Als alle Mädels an einem Weißen Sonntag Kommunion feierten, durfte sie zwar dabei sein, jedoch nicht wie die anderen im blütenweißen Kleidchen: In ihres stickten die Schwestern bunte Fäden.
Auch aus anderen, merkwürdigen Ereignissen, erzählt Margrit Korge, konnte sie sich erst später einen Reim machen: Jungen gab es plötzlich im Haus, später sogar Erwachsene. Sie schätzt, daß die Nonnen im Laufe der Jahre knapp zwei Dutzend Menschen vor den Nazis versteckten, untergebracht im Keller, auf Matratzen im Schwimmbad, unter dem Dach. Dorthin durften die Kinder nicht, aber die Nonnen brachten Essen hinauf, und von dort kamen dauernd Geräusche.
Ihre jüdischen Großeltern konnte Margrit ein letztes Mal im September 1941 treffen. Sie mußten den Judenstern tragen. „Und ich schämte mich“, erzählt Margrit: „Daß sie nicht katholisch waren, wußte jeder. Doch mir als Kind erschien Katholischsein als das Höchste.“ Die Großeltern und Margrit gingen im Westend spazieren, fanden aber kein Lokal, das sie als Juden betreten durften. Schließlich setzten sie sich zu dritt auf eine Bank mit einem „Für Juden verboten“-Schild. Margrits Großmutter legte ihr eine Goldkette mit einem Kreuzchen um den Hals: „Nun denken die Menschen, du seist ein Christenkind“, sagte sie. Die Nonnen nahmen ihr die Kette später wieder ab. Solcher Schmuck sei im Heim verboten. Die Großeltern kamen noch im selben Jahr ums Leben, die Oma im Ghetto Lodz, der Opa auf dem Transport dorthin.
Die Lage wurde auch im Internat immer gefährlicher. Schon 1942 kam die Gestapo mehrmals – einmal warf sich eine der Nonnen gegen eine Tür, um den Nazis den Weg zum Keller zu versperren. Die Nazis zählten die Kinder, um sie mit der Anzahl der Gemeldeten zu vergleichen. Darüber hinaus hatten die Nonnen Probleme, alle Heimbewohner zu ernähren, denn Lebensmittelkarten gab es nur für die Gemeldeten – mit Gemüse aus dem Klostergarten brachten die Schwestern schließlich mühsam alle durch.
Als die Gefahr für Margrit weiter wuchs, holte der Großvater väterlicherseits seine Enkelin 1942 aus dem Internat. Obwohl er Nazi war, versteckte er sie in seiner Wohnung in der Frankfurter Allee in Friedrichshain. Auf der anderen Seite schlug er sie mit einem Siebenstriemer, um ihre angeblich „jüdische“ Seite wie Unruhe herauszuprügeln. Außerdem durfte sie als Versteckte bei den Bombenangriffen nicht in den Luftschutzbunker.
Dennoch ging bis zum 14. November 1944 alles gut. An diesem Tag aber hängte der Blockwart einen Zettel an die Wohnungstür der Großeltern: „Rebekka, du bist erkannt“.
Hals über Kopf brachte der Großvater Margrit bei einer Bauersfamilie in Brambach bei Plauen im Vogtland unter. Margrits Vater bezahlte den Aufenthalt. Noch bis zum Kriegsende blieb Margrit hinter großen Schränken versteckt.
Seitdem hat Margrit Korge Angst vor verschlossenen Türen: „Ich suche auch heute noch immer einen Fluchtweg.“ Erinnerung, sagt sie, „hat keinen Sinn, wenn sie nicht in die Zukunft weist“. Deshalb geht sie heute in Schulen, erzählt ihre Geschichte, ermutigt die Schüler, sich gegen rassistische Tendenzen zu wenden.
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