piwik no script img

Kolumne mit ein paar Dochs zuviel Von Michael Rudolf

Eigentlich bange ich den ganzen Tag meinen Januardepressionen entgegen, muß aber verblüfft feststellen, daß sie sich bisher entschieden weigern, in ihre Rechte zu treten. Vielmehr haben sie einer leichten Verstörtheit Platz gelassen.

In der Frühe fing es damit an, daß ich im SB-Center auf meine alte Jugendliebe, Sylvia D., gestoßen war. Oh, ich kann Ihnen sagen, also, sie war, na gut, davon doch lieber später vielleicht mal. Jedenfalls sind ihre einstigen Traummaße doch zu recht stattlichen Zahlenwerten aufgequollen. Ich lüge nicht, aber so 488-317-487 könnte etwa hinkommen, und ihre Zahnreihen stiften im Gemüt eines jeden Betrachters allergrößte Verwirrung. Sylvia ist jetzt an der Leergutannahme und ein, wenn auch trauriger, Grund mehr, nicht mehr im SB einzukaufen. Gibt doch genügend andere. Märkte. Zum Beispiel den „extra“. Die Kassiererin im „extra“ ruft mir in ebenso emotions- wie interpunktionsloser Diktion zu: „Wenn alle so wären wie Sie, dann tätes hier richtig Spaß machen!“ Die Nachbarkassiererin bestätigt dieses wortreich.

Im „Plus“ spricht die Gemüsefrau: „Den Blumenkohl mach' ich Ihnen doch mal eine Mark billiger.“ Die in der Backwarenabteilung (die mit den riesengroßen Klunkern dranne) muß sich in meinem Beisein erst einmal hinsetzen und beginnt versonnen in ihrer Jugendzeit nachzukramen. Ihr ansonsten eher hermetischer Blick spricht Bände.

Im „Spar“ kommt der Azubi herzugepest und händigt mir im Auftrag der umsichtigen Kollegin (dahinten) einen Korb aus, weil es nun doch mehr geworden ist, als ich ursprünglich (Flasche Wein) hatte kaufen wollen.

Zu Mittag am Fahrkartenschalter eines bundesweiten Beförderungsunternehmens bekomme ich von der blinzelnden Schalterdame zugepiepst, ich könne doch im Zug lösen, und werde auch mit einem „Tschühüß“ in Richtung Bahnsteig entlassen. In der Bahn nach P. stuft die Zugbegleitpersonalrätin meinen Fahrkartenwunsch jedoch unter Kulanz ein („das gilt auch für die Rückfahrt“) und schließt die Abteiltür schmunzelnd wieder von außen.

Im Bioladen erfahre ich die neuesten Beziehungsprobleme der Verkäuferin (die mit der Wagenknecht-Frisur) und werde um seelsorgerischen Rat ersucht. Die so schon überaus freundliche Buchhändlerin stapelt meine Bücher auf einmal direkt neben der Kasse und lädt mich für demnächst auf einen Kaffee ein. Na klar doch, ich könne sogar Tee haben.

Auf dem Weg nach Hause fix in den Copyshop. Die adrette Vierzigerin (heute im Countrylook) fragt, was sie sonst „noch so“ für mich tun könne, und winkt mir ein „bald wieder“ hinterher.

Selbst meine, das muß man jetzt wirklich mal so sagen, doch ganz schön violent disponierte Nachbarin, die auch ihrem Automobil alle nur erdenklichen Waghalsigkeiten abverlangt, scheint völlig anderen Sinnes. Anstatt mich, wie sonst, einfach samt Fahrrad über den Haufen zu fahren, gewährt sie mir nichts, dir nichts Vorfahrt. Und abends am Altpapieriglu zettelt sie sogar ein Gespräch mit mir an, das allen Anstand und jegliche Contenance weiträumig umschifft.

Kann mir jetzt vielleicht mal einer sagen, was heute eigentlich los ist?

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen