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Heucheleien im Kalten Krieg

■ Der ehemalige Senatssprecher Egon Bahr spricht über Fluchthelfer, Mauerschützen, das Verhältnis zu den Westalliierten, Freund- und Feindpropaganda im geteilten Berlin der sechziger und siebziger Jahre

Egon Bahr war von 1960 bis 1966 Sprecher des Berliner Senats unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt. 1966 folgte er Brandt als Sonderbotschafter und Leiter des Planungsstabes nach Bonn, wo er Bundesminister für besondere Aufgaben wurde. Bahr handelte u.a. das Transitabkommen mit der DDR aus. Von 1976 bis 81 war Bahr Bundesgeschäftsführer der SPD. 1990 legte er alle Parteiämter nieder, blieb jedoch bis heute außen- und sicherheitspolitischer Berater des SPD-Vorstands.

taz: Am 18. Januar 1962 wurde der DDR-Grenzsoldat Reinhold Huhn von einem westdeutschen Fluchthelfer erschossen. Damals waren Sie Pressesprecher des Berliner Senats. In der von Ihnen verbreiteten Erlärung hieß es, der Fluchthelfer sei unbewaffnet gewesen, die Vopos hätten ihren eigenen Kollegen erschossen. Welche Erinnerungen haben Sie an den Vorfall?

Egon Bahr: Das ist nun 37 Jahre her, und meine Erinnerungen sind sehr schemenhaft. Wir hatten bis dahin keinen Fall, in dem sich jemand seine Flucht freigeschossen hatte. Daraus resultierte für mich eine ziemliche Glaubwürdigkeit, daß das nichts Besonderes gewesen wäre. Da hat jemand die Flucht versucht, das heißt, die Grenzer haben geschossen und aus Versehen nicht den Flüchtenden, sondern die eigenen Leute getroffen. So etwas ist mir auch gesagt worden auf meine Frage bei den Behörden, und so habe ich das weitergegeben.

Ich kann nur nachträglich sagen, so darf ein Sprecher eigentlich nicht arbeiten. Er muß versuchen, sich selber sachkundig zu machen, denn das, was der Sprecher sagt, muß stimmen. Das habe ich nicht getan.

Welche Behörden waren das, auf deren Auskünfte Sie sich damals verlassen haben?

Irgendwer beim Innensenator. Und wenn ein Mensch aus der Innenbehörde sagt, so sei das gewesen, hat man selbstverständlich auch keinen Grund, daran zu zweifeln.

Aber später Sie haben Ihre Auffassung geändert?

Ungefähr 1971 kam die Angelegenheit wieder zur Sprache, während meiner Verhandlung mit Michael Kohl, dem Staatssekretär der DDR, über das Transitabkommen. Es ging darum, ob man bestimmte Kategorien von Reisenden von der Benutzung der Transitwege ausschließen konnte. Und Kohl hat gesagt, wir können nicht zulassen, daß ein Mensch wie Axel Springer, der ein reiner Hetzer ist, die Transitwege benutzt. Oder, daß Transitwege von Vertriebenenverbänden benutzt werden, die nach Berlin gehen, um hier gegen uns agitieren. – Oder wenn so ein Mensch kommt, wie der, der damals den Huhn erschossen hat. Meine Erinnerung an den Fall war damals schon fast genauso schemenhaft wie heute, aber ich habe mir gedacht: Der muß den wirklich erschossen haben, sonst wäre für mich ganz unerklärlich gewesen, daß Michael Kohl einen einzigen solchen Fall mit dem betreffenden Indiviuum benannt hätte.

Diese Version wurde bereits direkt nach dem Tod Reinhold Huhns in einigen Medien vertreten. Gab es darüber noch Diskussionen im Senat?

Nein, überhaupt nicht.

Vor Gericht hat dieser Fluchthelfer gesagt, der Staatsschutz der Polizei habe ihm die Waffe beim Verhör weggenommen und gesagt, er solle ab sofort aussagen, er sei nicht bewaffnet gewesen. Ein paar Tage später ist er dann von einem amerikanischen Geheimdienst nach Westdeutschland gebracht worden. Wie bewerten Sie eine solche Vertuschung heute?

Wir können doch nicht so tun, als wären in dieser schrecklichen Zeit des Kalten Krieges die einen nur edle Menschen, Wahrheitsfanatiker und die anderen nur schlechte Menschen und Lügner gewesen. Natürlich hat auch der Westen im Kalten Krieg sich nicht nur an die Regeln eines Mädchenpensionats gehalten. Und das ist scheinbar in diesem Fall auch so.

Wie sehen Sie jetzt den Prozeß?

Persönlich kann ich dem Schützen im Grunde keinen Vorwurf machen, daß er unter dem Eindruck „der oder ich“ gesagt hat, dann lieber „der“. Das ist ein Verbrechen, und ich habe Verständnis für dieses Verbrechen. Unter dem Strich würde ich das im Prinzip genauso ansehen wie die Schüsse der Mauerschützen. Insgesamt komme ich zu dem Ergebnis, ich kann diese Mauerschützen nicht unbestraft lassen. Und die Strafe ist so, daß sie mit Bewährung versehen wird. Ich würde in diesem Falle im Grunde zum gleichen Ergebnis kommen. Ich kann, wenn gezielt geschossen worden ist, nicht so tun, als sei das nichts.

Man hätte den Täter auch schon viel früher anklagen können.

Sie leben in der Gnade der späten Geburt. In den Zeiten des Kalten Krieges und solange die Mauer noch stand, war die Vorstellung eines solchen Prozesses ohnehin unwahrscheinlich, nicht?

Willy Brandt hatte ein Notwehrrecht für Fluchthelfer propagiert, ihnen jede Unterstützung zugesichert. Die DDR hat ihm daraufhin vorgeworfen, der betreffende Fluchthelfer hätte sich dadurch zu den Schüssen auf Reinhold Huhn ermutigt gefühlt.

Selbstverständlich war ein Mensch, der aus der DDR fliehen wollte, in einer Notwehrsituation, wie Brandt sie beschrieben hat. Wenn er zu der Entscheidung gekommen ist, er will fliehen, dann kann er nicht sagen, ich fliehe nur unter der Voraussetzung, daß mir die Tür aufgemacht wird.

Es gab 1961 und 62 von der Westberliner Polizei den sogenannten Feuerschutz für Flüchtlinge, was die DDR als aggressiven Akt empfunden hat.

Wir haben keinen Feuerschutz gegeben, im Gegenteil: Unsere Schußwaffengebrauchsanweisung verbot zu schießen, es sei denn, es schlagen Schüsse bei uns ein, oder in unmittelbarer Notwehr, weil Schüsse jemanden im Westen gefährden könnten.

Was aber sehr großzügig ausgelegt wurde.

Im Gegenteil: Der moralische Vorwurf der verweigerten Hilfe wäre möglich gewesen. Die Realität war jedoch, daß die Alliierten sogar die Weisung gegeben haben, daß wir unsere Polizei zum Schutz der Mauer einzusetzen haben. Da durfte nichts passieren. Das war zum Teil Heuchelei: Wir haben geschrien und protestiert und waren entrüstet, aber wir haben nicht geholfen. Unsere wundervollen Studenten haben gesagt, wir sind doch nicht schlechter als die Algerier. Wir werden dieses Ding schneller in die Luft blasen, als die es jeweils wieder aufbauen können, wir können auch mit Plastiksprengstoff umgehen. Im Grunde war der Berliner Senat genauso souverän wie die Behörden in der DDR.

Seit Ende 1961 war klar, diese Mauer bleibt Status quo. Aber in der Propaganda des Berliner Senats wurde etwas anderes erzählt.

In Wirklichkeit war die Sektorengrenze politisch und machtmäßig die Grenze zwischen Ost und West. Das ging gegen unser Gefühl und gegen unser menschliches Rechtsempfinden. Aber damit mußte man sich abfinden, spätestens nach der Konfrontation in der Friedrichstrasse, Oktober 61.

Sie haben 1963 mit Ihrem Vortrag „Wandel durch Annäherung“ in der Tutzinger Akademie die Entspannungspolitik mit eingeleitet. War das für Sie die Fortsetzung der gleichen Politik, die Sie die Jahre vorher gemacht haben?

Diese Scheißmauer ist unter anderem Ausgangspunkt dessen, was später Ost- und Entspannungspolitik genannt wurde. Die Situation war: Da mir niemand hilft, dieses Ding wegzubringen, stehe ich vor der Frage, entweder ich protestiere erbittert, gerechtfertigt und resigniert und warte auf Wunder. Oder ich fange an, selbst etwas zu tun. Und selbst etwas zu tun, heißt, da ich Passierscheine leider nicht von der Bundesregierung kriege, nicht von den Amis, nicht mal von den Russen, muß ich mit denen verhandeln, die autorisiert sind, sie auszustellen. Das war die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, die „andere Seite“, wie mein damaliger Sprachgebrauch wurde.

Zurück zu Reinhold Huhn. Sein Denkmal ist 1990 als erstes DDR- Denkmal in Berlin abgerissen worden. Die nach ihm benannte Straße, der Ort, wo er erschossen wurde, ist auch sofort umbenannt worden. Sie heißt wieder Schützenstraße.

...Schützenstraße? Das ist makaber, ja makaber, o Gott...

Können Sie es sich vorstellen, daß es noch eine öffentliche Erinnerung an Reinhold Huhn geben könnte?

Ja, das kann ich mir vorstellen, wenn daneben eine Gedenktafel für den einen oder anderen ist, der von den Vopos erschossen worden ist, als er die Mauer überqueren wollte. Das wären die Namen, die für die groteske, schreckliche Absurdität der deutschen Teilung stehen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch. Interview: Bernhard Hummel

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