piwik no script img

Desaster mit den Herzchennummern

Weder das Kino noch der Papst weiß, wie das Leben auf der Straße nun wirklich ist. Um kleinkarierte Authentizität braucht man sich demnach auch bei Andreas Dresens „Nachtgestalten“ gar nicht erst zu kümmern  ■ Von Philipp Bühler

Es ist Nacht in Berlin, und es regnet in Strömen. Unversehens hat die obdachlose Hanna beim Betteln einen Hunderter in der Kasse. Ein seltenes Glück. Doch schmerzensreich ist der Weg zur ersehnten Nacht im Hotel mit Bett, Dusche und Freund Viktor, obwohl doch auch alles glattgehen könnte. Wären da nicht das Schicksal, ihr schlechtes Benehmen, die U-Bahn-Kontrolleure, die Polizei und der Papst, der auf Besuch mit seinen Schäfchen sämtliche Hotelbetten belegen muß.

Überhaupt der Papst. Dafür, daß er nur Stellvertreter Gottes auf Erden ist, greift er ganz schön drastisch in das Leben von Menschen ein, die seine Vorstellung vom Heil doch nur am Rande interessiert. Als nach dieser langen Nacht auf der Straße der große Schlaf seine Kunden gefunden hat, schaut er via TV noch mal bei allen vorbei. In „Nachtgestalten“ ist die Geschichte von Hanna und Viktor (Meriam Abbas und Dominique Horwitz) nur eine von drei großen und vielen kleinen Episoden, die sich, sequenzenhaft ineinandergeschnitten, miteinander verbinden und wieder lösen.

Geschickt montiert Regisseur Andreas Dresen in seinem ersten Kinofilm eine Chronologie des Zufalls, ohne diesem mehr als dramaturgische Bedeutung zuzuschreiben. Denn nichts kann die Schicksale wirklich miteinander verknüpfen. Alle werden naß, doch für verschiedene Menschen bedeuten ein paar verregnete Stunden ohne festes Ziel bei allem Mißgeschick nie dasselbe. Wie es denn nun ist, das „Leben auf der Straße“, das kann kein Film der Welt und auch der Papst nicht wissen.

Hendrik Peschke zum Beispiel, ein von Michael Gwisdek glänzend verkörperter Angestellter mit Streß und festen Vorstellungen, wird es verschmerzen können, daß ihm auf einer Odyssee durch ganz Berlin der Wagen geklaut und der Anzug versaut wird. Er sucht die Verwandten des kleinen Afrikaners Feliz, den er am Flughafen aufgelesen hat. Sein schlechtes Gewissen hält das ungleiche Paar zusammen, hat er doch wegen seines ganz kleinen, alltäglichen Rassismus den „Negerbengel“ fälschlich des Brieftaschenraubs verdächtigt.

Eines der schönsten von einigen politikrelevanten Details in „Nachtgestalten“: Als der deutsche Herr auf der Suche nach seiner Brieftasche hastig in Feliz' Reisetasche kramt, checkt er, nebenbei und ohne zu fragen, erst mal dessen Paß. „Aha, Angola!“ Was er nicht weiß: Feliz ist allein nach Deutschland eingereist, um einen Asylantrag zu stellen. Der Kleine wächst ihm ans Herz, was am Ende die Trennung zu einer rührenden Angelegenheit macht.

Ungemein frustrierend hingegen die Geschichte von Jochen, dem Landei. Wissen Sie, wie man sich am Telefon verhält, wenn man eine dieser Herzchennummern aus der Zeitung wählt? Der schüchterne Jochen weiß es auch nicht und legt auf. Als ihn die drogensüchtige Patty anspricht, erwartet ihn ein Stundenhotel mit aseptischer Krankenhausatmosphäre. Weil das nichts ist für den gutmütigen Kerl, durchwandert auch er mit Patty die Nacht und gerät von einem Desaster ins andere: In einem lauten Technoklub besorgt sie sich ihren Schuß und bringt ihn in ein Besetzerhaus, dessen Insassen ihn wüst verprügeln. Dabei wollte er ihr doch am Ende nur noch helfen. Nicht nur die sich wiederholenden und schön eingefangenen Motive der Nacht und der Taxifahrt, sondern vor allem die bemerkenswerte Filmmusik, mit Akkordeon und Schlagzeug direkt zum Bild eingespielt, lassen an Jim Jarmuschs „Night on Earth“ denken, der hier auf die kleine, aber rauhe Wirklichkeit Berlins reduziert wurde. Das Bruchstückhafte garantiert auch hier, daß sich die kleinkarierte Frage nach Authentizität gar nicht erst stellt.

„Nachtgestalten“: Regie: Andreas Dresen. Mit Michael Gwisdek, Dominique Horwitz, Meriam Abbas u.a., D, 104 Min.

15.2., 9.30, Royal Palast; 18.30 Uhr, Urania; 22.30 Uhr, International

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen