: Dasein im Design
In der Wohnkultur Nachkriegsdeutschlands spiegelt sich der soziale und politische Wandel. Der Cocktailsessel stand für das Wirtschaftswunder, das alte Plüschsofa in den Wohngemeinschaften symbolisierte Konsumverzicht. Doch war das jeweils favorisierte Design mehr als zeitgemäß? War es auch modern? Teil VI der Serie „50 Jahre neues Deutschland“ ■ Von Reinhard Krause
Als die Schauspielerin Brigitte Mira vor kurzem in einem Fernsehinterview nach ihren Hobbys gefragt wurde, gab die 89jährige eine erstaunliche Antwort. „Ach, wissen Sie“, flötete sie mit kokettem Augenaufschlag, „ich wohne schrecklich gern.“ Welch seltsames Hobby! Denn schließlich erledigt sich das Wohnen in der Regel ganz en passant. Oder geht es uns heute zu gut?
Vor fünfzig Jahren jedenfalls hatte das Wohnen noch existenziellen Einfluß auf das Dasein. Ende des Zweiten Weltkriegs waren in Deutschland sieben Millionen Wohnungen zerstört. Infolge von Bombardierung, Vertreibung und Zwangseinquartierung herrschten in den ersten Nachkriegsjahren Wohnverhältnisse, wie sie heute kaum mehr vorstellbar sind. Man lebte auf engstem Raum, zur Untermiete oder in Notunterkünften wie den sogenannten Nissenhütten aus Wellblech. Auch in den eilig errichteten Neubauten der vierziger und fünfziger Jahre waren Zimmergrößen von zwölf, maximal sechzehn Quadratmetern die Norm.
In dieser Enge stach die Unproportioniertheit der über den Krieg gebrachten Möbel um so deutlicher ins Auge. Wuchtige Küchen- und Wohnzimmerschränke wirkten nicht mehr repräsentativ, sondern bedrückend und muffig. Allmählich griff die Erkenntnis Raum, daß weniger und kleinere Möbel durchaus einen Gewinn an Lebensqualität darstellen können – gute Ausgangsvoraussetzungen für eine Renaissance reformerischer Wohnkonzepte.
Als 1949 in Stuttgart und Köln die ersten deutschen Möbelausstellungen nach dem Krieg stattfanden, waren Mangelwirtschaft und Einfallslosigkeit nach all den Jahren der Isolation von internationalen Wohnstandards allerdings noch deutlich zu spüren. Die Materialien waren zumeist ärmlich, die Entwürfe entsprachen noch weitgehend den grobschlächtigen und wenig individuellen Schlichtheitsidealen des Dritten Reichs. Eine Internationalisierung des Wohnstils erfolgte in Deutschland erst in den beginnenden fünfziger Jahren.
Vor allem in den USA waren in der Zwischenzeit die zuerst am Bauhaus entwickelten Prinzipien moderner Architektur aufgegriffen worden. Der konstruktive Funktionalismus der Zwischenkriegszeit war mittlerweile durch „organische“ Formtendenzen aufgelockert worden. Die Sitzmöbel des amerikanischen Designers Charles Eames besaßen schwingende Konturen und waren auf die menschliche Anatomie zugeschnitten. Hinzu kamen neue Fertigungsmethoden, die es erlaubten, nicht nur Schichtholzmöbel zu produzieren, sondern auch Kunststoffschalen in nahezu jeder beliebigen Form.
Dem Käufer des langsam einsetzenden deutschen Wirtschaftswunders freilich blieben diese geradezu futuristischen Möbel lange Zeit suspekt. Hier hielt man sich lieber an die harmloseren und gefälligeren Varianten des organischen Looks. Tütenlampen, Nierentische und Cocktailsessel sahen nach Eisdiele und Urlaub in Italien aus – und wurden zum Inbegriff eines leichteren, helleren Lebens. Daß sie zudem billig produziert und halbwegs erschwinglich waren, trug sehr zu ihrer Popularität bei. Originäres Design hingegen waren diese Erzeugnisse nur selten.
Wer es gediegener mochte, gab modernen skandinavischen Möbeln aus Edelhölzern wie Teak den Vorzug. In dänischen Möbelfabriken wurde zwar industriell produziert, Entwurf und Endfertigung jedoch lag in den Händen erfahrener Handwerker. Besonders erfolgreich waren Systemmöbel, die sich im Laufe der Zeit ergänzen ließen. Auch im Bereich des Hausrats profitierten viele Hersteller vom Konzept des Ausbauprogramms, das es gestattete, einen Haushalt mit geringen Finanzmitteln sukzessive aufzustocken.
In sozial schwachen Bevölkerungsschichten blieb allerdings das sogenannte Gelsenkirchener Barock noch bis weit in die siebziger Jahre bestimmend: billig produzierte Großmöbel, die durch das Anbringen von Zierleisten und Ornamenten eine vordergründige Üppigkeit ausstrahlten. Es gehört zu den Wunderlichkeiten modischer Umschwünge, daß ausgerechnet die Protestgeneration der 68er ein Herz für die ausrangierten Gründerzeitmöbel ihrer Großeltern entdeckte, die die historistischen Vorbilder des Gelsenkirchener Barock waren.
Der funktionalen Moderne hingegen erteilten die Studenten der siebzigerJahre eine deutliche Absage. Mochten avancierte Möbelfirmen in den späten sechziger Jahren die multifunktionale Wohnlandschaft propagieren, die Studenten der Woodstock-Ära favorisierten durchgesessene Plüschsofas und Schrankkollosse.
Wichtiger als Qualität und Eleganz war unprätentiöse Gemütlichkeit. Die Sofas und zu Schlaflagern aufgetürmten Matratzen waren ohnehin vor dem Sperrmüll gerettet worden – die beste Voraussetzung für eine von Putz- und sonstigen Zwängen befreite Daseinsform. Gerne auch drückte man seine experimentelle Grundhaltung gegenüber tradierten Wohnformen dadurch aus, daß man Tischen und Stühlen ohne vernünftigen Grund die Beine kürzte.
Auch dies war eine internationale Erscheinung. Spezifisch deutsch oder zumindest mitteleuropäisch war hingegen die soziale Ausprägung dieser Wohnexperimente. Nirgendwo sonst wurden die alten Familienstrukturen so gründlich aufgekündigt und durch das Wohnen in Kommunen und Wohngemeinschaften ersetzt.
Der Demokratisierungsschub der siebziger Jahre ging Hand in Hand mit einem Niedergang der reformerischen Ideen modernen Wohnens. Die noch in den sechziger Jahren geplanten Hochhaussiedlungen galten nun als Weg in die Entmenschlichung; Wohnratgeber wurden wie die Benimmbücher der fünfziger Jahre als überlebte Skurrilität belächelt.
Damit endete auch eine jahrzehntealte Tradition volkspädagogischer Aufklärungsliteratur: Seit den Stilentgleisungen des Historismus war der Kampf gegen schlechten Geschmack und kleinbürgerliche Repräsentanzgelüste zumeist in spitzzüngigem Ton geführt worden. Schon vor der Jahrhundertwende hatte zum Beispiel Paul Schultze-Naumburg in Hinblick auf Stuck und Ornamentik süffisant gefragt: „Kann man ein häßliches Kleid durch Behängen mit Schmuck schöner machen?“ Mustergültig beantwortet wurde diese Frage erst zu Beginn der sechziger Jahre, als Eva J.M. Schmid in ihrem Buch „Unsere Wohnung. Einrichten und Gestalten“ zu der Formel fand: „Natürlich kann man aus Greueln keine Kunstwerke machen, aber man kann ihnen eine heitere Seite abgewinnen.“
Nicht nur der Umgang mit ererbten unschönen Möbeln wurde von Frau Schmid erörtert, sondern auch Fragen der Baufinanzierung, der unterschiedlichen Heizmethoden, der Wahl des richtigen Haustiers oder der häuslichen Hygiene. Modische Zeitgeisterscheinungen fanden dabei wenig Gnade: „Die Frisierkommode, ein mit einem dreiteiligen Spiegel gekrönter Flügelaltar der Eitelkeit, ist nicht nur eine Geschmacksverirrung, sondern auch eins der unpraktischsten Möbel, die es gibt.“ Das wiederum sahen die nonkonformistischen 68er überhaupt nicht so eng: Fragen der Wohnraumgestaltung waren schiere Äußerlichkeiten.
In den achtziger Jahren erfolgte ein neuerlicher Umschwung, als auf Stil wieder großer Wert gelegt und der Begriff Design Allgemeingut wurde. Alltagsdinge, die bislang vor allem gut zu funktionieren hatten, mußten nun den zusätzlichen Kaufanreiz extravaganter Gestaltung bieten. Diese „designten“ Gegenstände waren in der Regel nicht besser als ihre funktionalen Vorgänger, nur auffälliger. Die Maxime, gute Entwurfsarbeit ist unsichtbar, wurde geradezu in ihr Gegenteil verkehrt.
Ironischerweise diente ausgerechnet das frühe Bauhaus als Referenzpunkt für postmodernes Design – jene Phase, als Wassily Kandinsky Kreis, Quadrat und Dreieck zum gestalterischen Nonplusultra erklärt hatte. In den Dessauer Jahren des Bauhauses wurde diese Lehre schnell wieder zu den Akten gelegt, die Designer der achtziger Jahre jedoch entwickelten erstaunlichen Ehrgeiz, noch den profansten Toaster in eine Skulptur zu verwandeln.
In einigen Fällen – etwa bei der halbkugelförmigen Teekanne mit Metallsieb von Bodum – führte diese Herangehensweise zu gestalterischen Ergebnissen, die auch funktional überzeugten. Andere Produkte scheiterten in der Anwendung kläglich. Otl Aicher, Gründungsmitglied der Ulmer Schule und Freund konsequenter Kleinschreibung, konstatierte Ende der achtziger Jahre: „dieser tage ist das wohl erste eßbesteck auf den markt gekommen, mit dem man nicht mehr essen kann.“
Gemeint war ein 1987 von Feruccio Laviani entworfenes Edelstahlbesteck. „mit einem besteck aus den grundformen der elementargeometrie zu essen, muß jedes tischgespräch ersticken. man ist auf die essensaufnahme konzentriert. noch nie wurde uns zugemutet, so unbequem zu sitzen wie heute, wo ein stuhl ein gebilde aus kreissegmenten, quadraten und dreiecken zu sein hat, wenn möglich aus blech. die genugtuung bleibt: man sitzt auf kunst, man ißt mit kunst.“ Die Neureichen liebten das postmoderne Design.
Das ironische Weltbild der Postmoderne fand seine Übersteigerung in der jugendlichen „Bad taste“-Bewegung der neunziger Jahre, in der Kitsch verkultet wurde. Anstelle von Che-Guevara-Postern hängen heute 3-D-Postkarten und Pudelfotos über plüschigen Wäschepuffs. Die neue Niedlichkeit ist die Fortsetzung der Hippiehaltung mit anderen Vorzeichen: Was billig ist, kann auch amüsieren. Schon Eva J.M. Schmid konstatierte eine gewisse ästhetische Wirkungsmacht der Billigkultur: „Der Kitsch von heute und gestern grassiert bei all jenen, die nicht das Glück hatten, Geschmack zu lernen, und auch nie Lust bekamen, ihn gelehrt zu bekommen. Der Kitsch von vorgestern – oder noch besser von vorvorgestern – ist meist kein Kitsch mehr.“
In den neunziger Jahren setzte aber auch eine Rückkehr zur neuen Schlichtheit ein. Bei vielen neuen Möbelentwürfen scheint der puritanische Stil der amerikanischen Shaker-Bewegung Pate gestanden zu haben. Schlichte Hölzer und naturfarbene Textilien vermitteln ein ruhiges Raumgefühl. Die Parole der Trendforscher lautet: Zurück zu den Wurzeln. Das Leben ist wirbelig und anstrengend genug, da müssen die eigenen vier Wände für Beruhigung und Ausgleich sorgen. Vielleicht ist ja gerade dies der tiefere Sinn von Brigitte Miras erstaunlichem Hobby.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen