: Ein Vorbild für Deutschland
■ Italien: Fast unbemerkt von Resteuropa entwickelt das Land neue Vermittlungs- und Umgangsformen in Politik und Gesellschaft
Gerne geben wir es ja nicht zu: Italien, das vermeintliche Land des Chaos, bietet derzeit politische, gesellschaftliche und kulturelle Modelle an, wie Europa die Zukunft gestalten könnte. Die Italiener sind dabei, Antworten auf Probleme zu finden, die das Leben in ganz Europa schwermachen.
Zum Beispiel: Immigration. Während der Rest der EU noch immer an der Fiktion festhält, der Kontinent sei kein Einwanderungsgebiet, hat Italien die Konsequenzen aus dem nicht abreißenden Strom zuwanderungswilliger Menschen aus dem Balkan, aus Asien und Afrika gezogen. Das Land hat sich ein reguläres Einwanderungsgesetz gegeben. Mit seinen vorgesehenen 38.000 Zulassungen pro Jahr – quotiert nach Ländern – ist es sicher noch nicht der Weisheit letzter Schluß. Aber es ist ein Anfang, auf den wir in Deutschland noch warten.
Es spricht für die Italiener und – man sagt's ja nicht gerne – auch für ihre politische Kaste, daß sie überdies auch noch bereit waren, das Einwanderungsgesetz pragmatisch auszudehnen. Aufenthalt wird nicht nur den 38.000 gewährt, sondern auch noch den über 200.000, die einen Antrag gestellt hatten und sich als im Besitz der notwendigen Voraussetzungen erwiesen (guter Leumund, reguläre Arbeit und Wohnung).
Im Vergleich zu Deutschland scheinen das eher bescheidene Zahlen zu sein. Schließlich wurden hier über 350.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien aufgenommen – allerdings nur „vorübergehend“, während Italien das Bleiberecht dauerhaft verleiht. Nicht vergessen werden darf, daß Italien weit mehr als eine Million Illegale duldet, also Zuwanderer ohne gültige Aufenthaltspapiere. Solange sie nicht kriminell werden, läßt man sie gewähren.
Auch beim Thema Staatsbürgerschaftsrecht zeigt Italien Mut. Neben den auch in Deutschland üblichen Doppelpässen für Personen, deren Herkunftsländer sie nicht aus der alten Bürgerschaft entlassen, kann in Italien jeder seinen alten behalten. Daß diese Praxis ein politisches Problem werden kann, bestaunen die meisten Italiener noch heute an Deutschland.
Natürlich gibt es auch in Italien Rassismus. Er beschränkt sich allerdings weitgehend auf den Norden des Landes – auf Regionen, wo die Arbeit (mitunter Schwarzarbeit) der Immigranten in starker Konkurrenz zum angestammten Handel und Handwerk steht. In Süditalien werden die meisten Zugewanderten als Arbeiter beschäftigt, und da ersetzen sie die Einheimischen meist bei Tätigkeiten, die sonst keiner machen will. Und: Nach Umfragen hegen die Mailänder gegenüber Afrikanern mehr Sympathie als gegenüber Landsleuten aus Sizilien.
Kommen wir zum Beispiel Parteienherrschaft. Noch zu Beginn der 90er waren die Verhältnisse ungefähr mit Deutschland vergleichbar. Es gab zwei große Parteien, die Christdemokraten und die Kommunisten, mit je einem guten Drittel fester Wähler und je nach Gemütslage ungefähr zehn Prozent loser Anhänger, dazwischen ein paar Parteien zwecks Koalitionsbildung. In den 80ern entstanden lediglich die Grüne Partei und die Liga Nord als neue Formationen.
Nachdem sich Anfang der 90er der Korruptionssumpf als lebensgefährlich für die Wirtschaft, aber auch die Demokratie selbst erwiesen hatte, machte sich Italien daran auszumisten. Dies mit wesentlich weniger Respekt vor „hohen Tieren“, als dies in Deutschland, Frankreich und England der Fall ist. Und Italien zog weitere Konsequenzen. Der Großteil der Bürger erkannte, daß die Korruption auch eine Konsequenz des alten Parteidenkens und –gefüges war. Wo sich riesige Apparate bilden und zugleich die Werbung für die Parteien immer aufwendiger, die Plazierung von Kandidaten immer teurer wird, da wird die Korruption irgendwann zum Hauptfaktor der Geldakquise. Deshalb sehen viele Reformer die Zukunft der Politik nicht mehr in den aus dem vorigen Jahrhundert stammenden und dem nationalstaatlichen Denken verbundenen Parteien, sondern in der beweglichen Formierung von Interessengruppierungen. Die können bei Wahlen wechselnd koalieren und außerhalb von Wahlzeiten Druck auf die Politiker machen.
Die Liga Nord, man mag sie wegen der rassistischen Töne verabscheuen, war die erste, die das erkannt hatte und sich als eine Art „Libero“ in der italienischen Politik begriffen hat. Mal ist sie mit Berlusconi zusammengegangen. Mal hat sie ihn gestürzt, als er ihre Autonomiewünsche nicht ernst nahm. Dann gingen sie mit den Linken zusammen, um sie wieder zu verlassen, als klar wurde, daß auch bei den KP-Nachfolgern der Zentralismus und ein allmächtiger Parteiapparat dominierte. Der wohl letzte Versuch, eine große Volkspartei neu zu etablieren (aus der Asche der Democrazia Cristiana), stammte von Berlusconi. Der Übergang von der anfänglichen modernen „Movimento“-Attitüde zur tradtionellen Partei ist ihm nicht mehr gelungen.
Seither hat keine Partei mehr 25 Prozent erreicht, wenngleich sich 1996 vordergründig zwei kompakte Formationen gebildet hatten: die Mitte-rechts- und die am Ende siegreiche Mitte-links- Allianz. Doch beide sind längst wieder zerfallen. Nun sucht der Ende 1998 gestürzte Ex-Ministerpräsident Romano Prodi zusammen mit dem ehemaligen Anti- Korruptions-Ermittler Antonio Di Pietro ebenjenes Modell zu verwirklichen, das wegführt von der traditionellen Parteiherrschaft. Eine Bewegung, die zuerst ihre Ziele formuliert und dann nach Bündnispartnern sucht, bei jeder Wahl oder jeder Aktion neu – ohne großen Apparat, aber mit phantasievollen Einfällen zur Werbung für ihre Ideen.
Mehr als einhundert Bürgermeister aus allen politischen Lagern haben sich der Bewegung bereits angeschlossen. Alle mit dem erklärten Ziel, den gefährlichen Zentralismus nicht nur im Staat, sondern auch in den Parteien auszuhebeln und so mehr Bürgernähe zu gewinnen. Auch bei der Interessenvertretung haben die Italiener neue Wege beschritten. Wegen der Ineffizienz der großen Gewerkschaften sind schon vor zehn Jahren die Basiskomitees entstanden, die vor allem im Dienstleistungssektor erfolgreich waren.
Es gibt noch mehr Beispiele einer neuen Politik. Sie reichen von der Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Gemeinschaften bis hin zum neuen Sexualstrafrecht. Für den politisch interessierten Europäer ist es wieder lohnend, bei der Urlaubsplanung nicht mehr nur die Malediven oder die Bahamas anzusteuern, sondern über den Brenner zu kutschieren. Werner Raith
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