: Eingesperrt und ruhiggestellt
Wie Vera Stein geht es vielen: Sie sitzen zu Unrecht in der Psychiatrie. Jetzt wurde Stein ein Schmerzensgeld zugesprochen. Das Urteil wird Folgen haben ■ Aus Bremen Kerstin Schneider
Zwei Jahre lang wurde Vera Stein* Ende der 70er Jahre zu Unrecht in einer psychiatrischen Klinik in Bremen festgehalten. Dafür hat ihr das Bremer Landgericht jetzt, 20 Jahre später, in einem Zwischenurteil Schmerzensgeld und eine Rente zugesprochen. Über die Höhe soll in einem Endurteil entschieden werden. Stein fordert 40.000 Mark Schmerzensgeld. Die Klinik Dr. Heines hat gegen das Urteil Berufung eingelegt.
Den 16. November 1978 wird Vera Stein wohl nie in ihrem Leben vergessen. Drei Pfleger der psychiatrischen Klinik Dr. Heines in Bremen stürzten sich auf die damals 20jährige Patientin und rissen sie zu Boden. Ein Pfleger kniete sich auf ihre Schulterblätter. Der Oberarzt spritze ihr ein Beruhigungsmittel in hoher Dosis.
Stein war kurz zuvor aus der geschlossenen Abteilung der Klinik geflohen. Die Polizei hatte sie am Bremer Hauptbahnhof aufgegriffen und in Handschellen zurück in die Klinik gebracht. Die Klinik hatte allerdings gar kein Recht dazu, sie festzuhalten.
Vera Stein war nicht entmündigt. Es gab keine richterliche Anordnung für ihre Unterbringung in die Psychiatrie. Sie hatte auch keine Einverständniserklärung unterschrieben. „Ein rechtswidriger Eingriff in das Freiheitsrecht der Klägerin“, entschieden die Bremer Richter. Auch an der ärztlichen Diagnose gibt es Zweifel.
Knapp zwei Jahre lang wurde Vera Stein in der Heines-Klinik wegen einer Psychose behandelt. „Rückblickend kann davon ausgegangen werden, daß zu keiner Zeit eine Psychose vorgelegen hat“, stellte dagegen ein psychiatrischer Gutachter 1994 fest. Die junge Frau sei schwierig, aber gesund gewesen. Ihre Verhaltensstörungen seien auf das schlechte Verhältnis zu den Eltern zurückzuführen. „Die Eltern fühlten sich überfordert durch ihre Aufsässigkeit und reagierten mit Einschüchterung, das heißt: mit Prügeln und massiver Schuldgefühlsentwicklung.“
Mit 15 Jahren wurde Vera Stein 1973 das erste Mal von einer Psychologin untersucht. Sie galt als aggressiv und ritzte sich die Arme auf. Als Kind war sie an Kinderlähmung erkrankt. In der Schule wurde sie gehänselt. Die Psychologin tippte auf „Hebephrenie“ (Schizophrenie im Jugendalter).
Diese Verdachtsdiagnose wird im Laufe der Jahre von den Ärzten nie mehr in Zweifel gezogen. Das wird Vera Stein zum Verhängnis. Mit 16 bringen ihre Eltern sie zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik. In den darauffolgenden sieben Jahren lernt sie fünf psychiatrische Krankenhäuser kennen. Die längste Zeit, knapp zwei Jahre, verbrachte sie in Bremen. Im Laufe der Behandlung verlor sie ihre Stimme und konnte elf Jahre lang nicht sprechen. Eine Spätfolge der Kinderlähmung, sagen die Ärzte. „Eine Folge der Medikamente“, meint Vera Stein.
Sie hat inzwischen alle fünf Kliniken, in denen sie behandelt wurde, verklagt. „Anstatt die Folgen meiner Kinderlähmung zu behandeln, hieß es immer, meine Sprach- und Bewegungsstörungen seien psychosomatisch“, sagt Stein. Inzwischen ist die 40jährige auf den Rollstuhl angewiesen.
Das Landgericht Wiesbaden und das Oberlandesgericht Frankfurt am Main haben die Klagen Steins als unbegründet abgewiesen. Eine falsche Behandlung könne nicht nachgewiesen werden, urteilten die Richter. Für das Bremer Landgericht war diese Frage dagegen unerheblich.
Die Heines-Klinik hätte die Einwilligung der volljährigen Patientin einholen müssen. Die Unterbringung in der sei allein auf Wunsch des Vaters erfolgt. Die Klinik hat gegen das Urteil Berufung beim Oberlandesgericht in Bremen eingelegt.
Die Heines-Klinik ist sich keiner Schuld bewußt. Die Klägerin habe nie den Willen geäußert, die KLinik zu verlassen, argumentieren die Anwälte des Krankenhauses. Die damalige Behandlung sei wegen der „Wahnvorstellungen“ der Patientin notwendig gewesen. Die Fluchtversuche seien ein Zeichen dieser Krankheit gewesen. Vera Stein sei damals nicht in der Lage gewesen, einen „rechtsgeschäftigen Willen“ zu äußern.
Das Oberlandesgericht wird jetzt einen neuen Gutachter bestellen. Für Stein eine beängstigende Vorstellung. „Eine Krähe hakt der anderen selten ein Auge aus.“
1995 hatte das Landgericht Marburg Klaus-Peter Löser eine halbe Million Mark Entschädigung zugesprochen. Löser hatte wegen einer Fehldiagnose neun Jahre in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik verbracht.
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