: Auch Gottesfurcht schützt vor Raffgier nicht
■ Urteil im längsten Prozeß in der Geschichte Israels: Arye Deri, Ex-Innenminister und Vorsitzender der Schas-Partei, der Korruption, Falschaussage und des Diebstahls schuldig
Jerusalem (taz) – Voller Verzweiflung griffen sich Anhänger der Schas an den Kopf, als sie gestern im Autoradio den Urteilsspruch des Jerusalemer Bezirksgerichts vernahmen. Mit Anstekkern, auf denen das Foto des Parteichefs abgebildet ist und darunter die Worte „stark und gesegnet“, waren zig religiöse Männer zur Solidaritätskundgebung vor das Gericht gekommen. Gegen Mittag stieg die Zahl auf einige hundert Menschen. Arye Deri, Chef der ultrareligiösen Partei und ehemals Innenminister, wurde in fast allen Anklagepunkten für schuldig befunden. Kernpunkt des Urteils ist, daß Arye Deri im Verlauf von fünf Jahren, in denen er in verschiedenen Regierungsämtern tätig war, rund 155.000 Dollar an Bestechungsgeldern kassiert hat. Nach dem Schuldspruch ist so gut wie sicher, daß der ehemalige Innenminister eine mehrjährige Haftstrafe antreten muß. Das genaue Strafmaß wird erst in etwa zwei Wochen bekanntgegeben.
Der vorsitzende Richter, Jaakow Zemach, läßt in der 900 Seiten umfassenden Urteilsbegründung an dem Angeklagten kaum ein Haar ungekrümmt. Neben Bestechung werden ihm Diebstahl und Falschaussage zur Last gelegt. Der Angeklagte sei „nicht an der Enthüllung der Wahrheit interessiert gewesen“, sondern habe über zweieinhalb Jahre lang sein „Schweigerecht mißbraucht“. Er habe zudem keine Gelegenheit ausgelassen, um der Polizei ihre Arbeit zu erschweren. Vom Beginn bis zum Ende des Verfahrens sei eine „intensive Zusammenarbeit“ der Zeugen der Verteidigung hergestellt worden. Dabei hätten „nicht alle die Wahrheit gesagt“. Es „waren große Anstrengungen notwendig, um die Wahrheit zu enthüllen“, kritisierte der Richter.
Eine Hauptzeugin hätte die damals in New York lebende Esther Werberger, Adoptivmutter von Deris Ehefrau Jaffa, sein sollen. Deri hatte zunächst angegeben, daß das Geld für seine Jerusalemer Luxuswohnung von seiner Schwiegermutter stamme. Tatsächlich hat das Ehepaar Deri anstelle der angegebenen 200.000 bis 250.000 Dollar nur rund 50.000 Dollar von den Schwiegereltern erhalten. Esther Werberger hatte sich geweigert, eine von Deri fomulierte Erklärung zu unterzeichnen. Verhöre durch die israelische Polizei waren von Deri und seinen Freunden in den USA, die – so Richter Zemach – „die Einsamkeit der alten Frau mißbrauchten“, über Monate vereitelt worden
Esther Werberger starb ungefähr ein Jahr nach dem Beginn der Verhandlung bei einem mysteriös anmutenden Autounfall. Am Steuer des Wagens, der die alte Frau überfuhr, saß Mosche Reich, ein Vertrauter Deris. „Esther war der Schlüssel zur Wahrheit“, meinte dazu der vorsitzende Richter.
Der Urteilspruch des längsten Strafverfahrens in der Geschichte Israels ist nur das Ende des ersten Aktes. Schon stellt die Verteidigung ein Revisionsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof in Aussicht. Dazu kommt eine weitere Zivilanklage gegen Deri, die in Kürze vor Gericht gebracht werden wird. Darin geht es um die zu Beginn des Jahres 1997 enthüllte Affäre rund um die Ernennung des parlamentarischen Justizberaters. Deri wird beschuldigt, im Gegenzug für politische Eingeständnisse seiner Partei eine Postenbesetzung bewirkt haben zu wollen, die sein laufendes Strafverfahren günstig beeinflussen sollte. In einer Pressemitteilung erklärte der schuldig Gesprochene gestern nachmittag, er wolle sein Amt als Partei-Vorsitzender behalten. Einen Ministerposten darf er laut israelischem Recht jedoch in den kommenden zehn Jahren nicht übernehmen.
Deri zeigte sich im Anschluß an die Urteilsverkündung betont optimistisch. Er verließ das Gerichtsgebäude lächelnd und erklärte, er fühle sich wohl. Noch am Vormittag hatte er in der Hebroner Grabstätte des Stammvaters Abraham gebetet und anschließend den Segen des Kabbalisten Rabbi Jitzhak Kadduri eingeholt. Deri appellierte zudem an seine Anhänger, von gewalttätigen Demonstrationen abzusehen und statt dessen zu beten. Rabbi Ovadia Jossef, spiritueller Mentor der Schas, soll in Tränen ausgebrochen sein, als er den Urteilsspruch vernahm. Seit Tagen hatten die Schas-Anhänger für einen Freispruch gebetet. Tausende Schüler waren zu diesem Zweck an die Klagemauer geschickt worden.
Obschon gestern die angekündigten Massendemonstrationen ausblieben, hat der Schuldspruch politische Folgen. Dies sei ein „Dreyfus-Prozeß“, meinte einer der Demonstranten vor dem Gericht, und: „Wenn Deri ins Gefängnis geht, gehen alle sefardischen Juden ins Gefängnis.“ Der Partei-Chef sei von einem ashkenasischen (europäisch-jüdischen) Rechtsapparat zu Unrecht verklagt worden, hieß es. Susanne Knaul
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen