: Existenzkampf um die Zechen
Im rumänischen Schiltal herrscht Endzeitstimmung. Entlassene Kumpel finden keine Jobs. Wer noch rackert, wird doch kaum satt. Die Regierung hat kein Konzept ■ Aus Petrosani Keno Verseck
An kalten Tagen macht der Bulldozerfahrer ein Feuer unter der Ölwanne. Er tränkt Asbestwolle in Diesel und zündet sie an. Während das Feuer den Motor wärmt, holt er heißes Wasser und gießt es in den Kühler. Nach einer halben Stunde springt der Motor an. Hunde streunen auf dem Zechengelände umher und schlecken Wasser aus halbvereisten Pfützen. Die Ventilatoren im Lüftungsturm surren. Vom Denkmal für die Zechenopfer ist eine Marmorplatte abgefallen. Darauf stand eine Strophe aus dem Lied der Bergarbeiter: „Die Füße matt, schwarz im Gesicht / Steigen wir ans Tageslicht / Die Sonne blendet, sie scheint so hell / Sie scheint auf eine schlechte Welt.“
Der Direktor der Zeche warnt vor den Bergarbeitern. „Passen Sie auf, die springen Ihnen an die Kehle! Einige wurden von der Polizei verhört, als sie von ihrem Marsch nach Bukarest zurückkamen. Jetzt vermuten sie hinter jedem Fremden einen Spitzel.“ Costel, einer der Bergarbeiter, hat in dieser Woche Frühschicht. Die Schicht beginnt um sechs Uhr, doch er ist schon gegen halb fünf im Betrieb. Vor der Arbeit werden Essensrationen verteilt. Ein Stück Brot, Speck, Wurst. Die Wurst hebt Costel manchmal für seine Frau und seine Kinder auf. Kurz nach fünf tritt er den kilometerlangen Weg in den Stollen an.
Am Stolleneingang klopft ein Arbeiter Eiszapfen von den Stromleitungen ab. Fünfzehn bis zwanzig Minuten dauert der Marsch auf ein paar schmalen Brettern bis zum ersten Fahrkorb. Es gibt keine feste Beleuchtung, weil Geld für die explosionssicheren Glühbirnen fehlt. Als Behelf dient allein die Handlampe. Überall fließt Wasser, haben sich Schlammlöcher gebildet, liegen alte Loren und Eisenschrott herum. In den beiden schlecht gesicherten Fahrkörben drängen sich auf zwei Quadratmetern jeweils zwanzig Arbeiter, damit die zweihundert Kumpel pro Schicht nicht zu lange warten müssen.
Costel und seine Brigade sprengen in vierhundert Meter Tiefe einen Hauptstollen, um an ein neues Kohleflöz zu kommen. Ohrenbetäubend heult die Lüftungsanlage. Der freie Gang wird mit Metallnetzen bespannt und mit Eisenträgern gestützt, das gesprengte Gestein schaufelt ein Bagger in Loren. Zwei Meter kommen die Kumpel am Tag voran. Einige hundert sind es bis zum Flöz. „Es ist einer der besseren Arbeitsplätze“, sagt Costel. „Hier arbeiten wir mit Maschinen statt mit Schaufeln, und es gibt kaum Methangas. Geh mal zur Front, da ist die wirkliche Zeche!“
Den Weg zur „Front“, zu den Kohleflözen, kriechen die Arbeiter durch Schlamm und Kohlestaub auf allen Vieren oder auf dem Bauch, denn an manchen Stellen hat sich der Felsen bis auf weniger als einen Meter abgesenkt. Hin zum Flöz wird der Stollen immer enger und ist nur noch schlecht mit Holzbalken gesichert. Das Förderband nimmt fast die ganze Breite des Durchgangs ein. Überall gehen senkrecht oder schräg nach oben Schachte ab. Hier steigen die Kumpel kaputte Holzleitern hinauf oder hangeln sich an Kabeln hoch. Oben wird die Kohle abgesprengt und mit Schaufeln den Schachtrand hinunter aufs Förderband geworfen.
Es ist drückend heiß. Die Kumpel fluchen laut vor sich hin, Kohlestücke fallen von der Decke. Der Staub macht das Atmen schwer. Es riecht nach Methan. Der Vorarbeiter schreit seine Leute an und grüßt dann den Besucher auf seine derbe Art: „Reporter? Aha! Hier hast du eine Stück Kohle, das kannst du dem Industrieminister in Bukarest an den Kopf werfen, wenn er von Zechenschließung redet!“ Die Kumpel lachen.
Petrosani im Schiltal, Westrumänien, Zeche Dilja. Die Regierung wollte sie zu Jahresanfang schließen – Teil eines Sparprogramms für die größte Bergbauregion Rumäniens. Angekündigt waren auch Lohnkürzungen, Entlassungen und die Schließung anderer Zechen. Der Staat kann den Bergbau nicht mehr subventionieren. Vier Milliarden Dollar Verluste hat die Steinkohleförderung in den letzten zehn Jahren eingebracht. Doch als die Regierung ihre Sparpläne im letzten Dezember vorlegte, war dies der Zündfunke für einen Generalstreik im Schiltal und den Marsch der Bergarbeiter auf Bukarest. Noch arbeiten die Kumpel in Dilja weiter. Niemand weiß, wie lange.
Schichtende. Im graugrün gestrichenen Duschraum des Erdgeschosses zieht es. In den Duschkabinen und vor den Spinden drängen sich die Kumpel. Sie beäugen den Besucher. „Sieh dich vor“, ruft einer, „die Bergarbeiter sind gefährlich!“ Die Kumpel lachen. Costel setzt seine Ballonmütze auf und kramt Sonnenblumenkerne aus der Tasche. „Hier, nimm auch welche! Das einzige, was noch billig ist in diesem Land.“
Draußen wartet der Zechenbus. Als alle eingestiegen sind, tritt der Fahrer auf das Gaspedal, bis der Bus in eine Abgaswolke gehüllt ist. Schmerzhaft knirscht das Getriebe. Ein Ruck geht durch das Fahrzeug – der Gang ist eingerastet, der Bus rollt an. Entlang der Eisenbahnschienen vor der Zeche erstreckt sich die alte Siedlung, Häuser mit kleinen Gärten und Höfen. Die Fassaden sind seit Jahrzehnten vom Kohlestaub verrußt, der Asphalt von Schlaglöchern zerfressen. An den Gleisen sammeln in zerrissene Kleider gehüllte Kinder die Kohlereste ein, die aus den Waggons gefallen sind.
Der Bus fährt in das Neubauviertel ans Ende der Stadt. Costel wohnt mit seiner Frau und drei Kindern in zwei Zimmern in einem Block, den niemand ohne Hilfe findet, weil die Hausnummer fehlt. Überall steigt aus dem Erdreich zwischen den Gebäuden Dampf auf. Hier versickert das Warmwasser, das seit zehn Jahren nirgendwo mehr im Schiltal bei den Bewohnern ankommt, weil die unterirdischen Leitungen verrottet sind.
Kaum ist Costel zur Tür hereingetreten, fragt seine Frau Ioana, ob er den Lohnvorschuß erhalten hat. Costel schüttelt den Kopf. „Sie hatten heute kein Geld in der Verwaltung.“ Ioana ist niedergeschlagen. „Wovon soll ich für morgen einkaufen?“ fragt sie vorwurfsvoll. Dann holt sie das Essen aus der Küche und stellt es auf den Tisch. Bohnenbrei mit einem Würstchen. „Wir essen einen Tag Bohnen, den anderen Maisbrei“, sagt Costel zum Besucher, „dann wieder Bohnen und Maisbrei. Gut, daß du heute hier bist, sonst hätte das Würstchen da obendrauf gefehlt.“
Als Ioana den Tisch abräumt, kommt die Nachbarin mit einem Einschreibebrief zur Tür herein. Costel öffnet ihn und lehnt sich plötzlich stöhnend zurück. Das Wasserwerk droht mit dem Gerichtsvollzieher, wenn die Familie ihre Schulden der letzten drei Monate nicht zahlt: 781.000 Lei, 110 Mark – mehr als ein Drittel von Costels Monatslohn. Lange herrscht Schweigen. Dann sagt Costel ohnmächtig: „Siehst du, deshalb wollten wir nach Bukarest marschieren und die Regierung stürzen. 18 Jahre haben sie Cozma gegeben, weil er sich für unsere Rechte eingesetzt hat...“ Costel bewundert den Bergarbeiterboß Miron Cozma, der seit 1990 sechsmal mit den Kumpeln aus dem Schiltal auf die Hauptstadt Bukarest gezogen ist und deshalb nun eine achtzehnjährige Gefängnisstrafe absitzt.
Bei den letzten beiden Märschen im Januar und im Februar war Costel selbst dabei. Er findet nicht, daß Cozma ein Krimineller ist. Und es stört ihn auch nicht, daß der Bergarbeiterführer sich von den Gewerkschaftsbeiträgen der Kumpel eine teure Limousine kaufte, seine private Telefonrechnung bezahlte und undurchsichtige Geschäfte machte. „Mag sein, daß die Gewerkschaftsführung nicht ganz sauber ist“, sagt Costel, „aber solange Cozma da war, ging es uns gut. Jetzt ist doch im Schiltal sowieso bald alles zu Ende.“
Costel arbeitet seit zwölf Jahren in der Zeche Dilja. Er ist ein breitschultriger, ruhiger Typ, trinkt keinen Alkohol und wirkt, als könne er niemandem etwas zuleide tun. Wenn er flucht, dann vielleicht nur leise oder wenn niemand ihn hört. Er ist 34 Jahre alt und kommt aus einem Dorf in der Moldau im rumänischen Nordosten. Seine Eltern waren sehr religiös. Die Mutter brachte siebzehn Kinder zur Welt. Anfang der achtziger Jahren ging Costel mit einigen seiner Geschwister ins Schiltal – wie Tausende andere auch: Hohe Gehälter lockten Arbeiter aus der armen Moldau hierher.
Ceausescu hatte entschieden, daß Rumänien weltweit die höchste Pro-Kopf-Stahlproduktion haben müsse. Für die Hochöfen wurde Kohle gebraucht. Zu Spitzenzeiten gab es unter den 180.000 Einwohnern im Schiltal 50.000 Bergarbeiter. Jetzt sind es noch 20.000. Seit zwei Jahren werden sie schrittweise entlassen. Gegen die erste große Entlassungswelle im Herbst 1997 protestierten die Bergarbeiter nicht, weil sie großzügige Abfindungen erhielten.
Doch viele haben die zehn bis zwanzig Monatsgehälter für den Kauf von Möbeln, Waschmaschinen oder Kühlschränken und für das tägliche Leben verbraucht und leben nun von Sozialhilfe. Neue Arbeitsplätze konnte die Regierung nicht anbieten. Jetzt reißt sich niemand mehr um die Abfindungen. „Wenn ich eine andere Arbeit bekommen könnte, würde ich sofort aufhören“, sagt Costel. „Niemand ist so blöd, für ein schlechtes Gehalt in die Zeche zu gehen, ohne zu wissen, ob er da nach der Schicht wieder rauskommt.“
Costel hat sich in diesem Winter in einer Liste eingetragen, als der Präfekt eines Kreises im rumänischen Siebenbürgen den Bergarbeitern anbot, Häuser und Höfe von ausgewanderten Deutschen zu übernehmen. Doch dann strich er seinen Namen wieder: Er hätte nur zwei Hektar Land und ein halbverfallenes Haus bekommen – zur Pacht und gegen Mietzahlung, Renovierungskosten exklusive. Früher arbeitete auch Costels Frau – in einem Weingroßhandel. Dann kamen die Kinder, und sie blieb zu Hause. Jetzt würde sie wieder arbeiten, doch freie Stellen gibt es im Schiltal für Frauen kaum.
„Mach noch ein bißchen warm“, bittet Costel seine Frau. Ioana holt aus einen kleinen Heizkörper. Er ist auf Kredit gekauft und noch nicht abbezahlt. „Unter Ceaușescu hatten wir wenigstens Geld“, sagt Costel. Ioana widerspricht. „Nein, da ist es mir jetzt schon lieber. Erinnerst du dich nicht mehr an die rationierten Lebensmittel? Jetzt gibt es wenigstens alles zu kaufen.“ „Ja“, erwidert Costel, „wenn du das Geld hast.“ Er schaut einen Augenblick umher, als wolle er etwas nachprüfen. Dann fragt er sich: „Was wollen die eigentlich bei uns pfänden? Uns gehört ja noch nicht mal die Heizung! Wir haben gar nichts plus einen Fernseher.“
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