: Hirns unergründliche Wege
■ Mit „www.MannFrauHut.de“ macht sich das Junge Theater frei nach Oliver Sacks Kurzgeschichten auf zur Kopfrecherche. Ein Werkstattbericht
Ein Patient, der unter einem schweren Gedächtnisverlust leidet, soll hypnotisiert werden. Seine Ärzte hoffen, dadurch unzugängliche Gedächtnisinhalte freizusetzen und den Grund des Leidens herauszufinden. Der Versuch schlägt fehl, weil der Patient die Worte des Hypnotiseurs nicht behält. Ein guter Witz. Man lacht. Darf man? Das Groteske, Absurde ist ein Zentrum der Krankengeschichten in „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ des Neurologen Oliver Sacks. Ein Bestseller. Und ein Ausgangspunkt.
Schon 1993 hat Theaterstar Peter Brook diese Kurzgeschichten für die Bühne adaptiert. Zu nüchtern war diese Inszenierung, meint das Regieduo Anke Thiessen und Ralf Knapp vom Jungen Theater in Bremen. Brook blieb an der Außenfläche haften. Mit ihrer Bremer Fassung „www.MannFrauHut.de“ suchen sie auch das Innere. Es geht also auch um eine Brook-Korrektur. Da Gehirn und Nervenbahnen eher schwer zugängliche Regionen sind, braucht es Umwege. Bilder mußten her. Bilder, in deren Mittelpunkt – man ist ja auf dem Theater – der Körper steht.
Das Ensemble – vier SchauspielerInnen, ein Musiker und die RegisseurInnen – besorgt Auswahl und Bebilderung. Vieles sei zufällig entstanden, d.h. in langer, intensiver Arbeit. Improvisationen, die irgendwann zur Spielfassung geronnen. Surreal anmutende Bilder. Figuren wie aus einem Magrittegemälde.
Ray etwa ist bei Sacks Schlagzeuger, der mit überschüssiger Nerventätigkeit Musik macht. Einen Schlagzeuger auf der Bühne würde man anschauen und sagen: Na ja, da steht ein Schlagzeuger auf der Bühne. Bloße Oberfläche. Das Ensemble will es deshalb anders machen: Multiinstrumentalist Hans-Christian Klüver spielt Witty Ticcy Ray, und, so sagt er, „mein Kollege Erkan Altun muß es ausbaden“. Altun nämlich verkörpert die Innensicht. Es gibt also zwei Rays.
Gewiß, man habe sich ein Bild gemacht von den wirklichen „Fällen“, sagt Altun, aber es bleibe Theater. Wär's durch dümmlich-inflationären Gebrauch nicht entwertet, man könnte das Ganze ruhig Selbsterfahrung nennen. „Normalerweise stellen wir den Körper nie in Frage, da er über jeden Zweifel erhaben ist“, schreibt Sacks in „Die körperlose Frau“. Wie Wittgenstein sah er die wichtigsten Dinge in ihrer Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. „www.MannFrauHut.de“ ist sinnliche Ber-gungsarbeit.
Sacks'sche rote Fäden in Produktion und Gespräch: Die Krankengeschichte, die Leib und Seele des Patienten zusammendenkt, die im Erzählen aber auch die Position des Beobachters reflektiert. Nicht Aufklärung auf der Bühne, eher die Übersetzung der Faszination. Die eine oder andere wichtige Frage geschickt zu plazieren, auszusenden in alle Normalitätsdiskurse dieser Welt – gar nicht schlecht. Weiterdenken müssen andere – bis jede(r) einzelne zum Fall der Fälle wird in diesem Kuriositätenkabinett!
Die Intensität, mit der gearbeitet wird, spiegelt sich in der Begeisterung, mit der das Ensemble auch nach einem langen Probentag erzählt. Es ist viel ernster Spaß im Spiel: An der Faszination und weil alles Plump-Pädagogische längst das Weite gesucht hat. Wäre doch gelacht, ließe sich das nicht auf das Publikum übertragen. Eines Abends an der Bushaltestelle seien ihr plötzlich alle Passanten merkwürdig vorgekommen, sagt die Schauspielerin Brigitte Eigenmann, so sehr habe sich ihr Blick verändert. Mag sein, daß der Theaterabend einen ähnlichen Effekt hat. Man wird feststellen, wie komisch Alltag ist und alles eben schrecklich normal.
Tim Schomacker
Premiere von „ www.MannFrauHut.de “ am Donnerstag, 1. April, um 20 Uhr im Jungen Theater.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen