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Eine seltsam-traurige Geschichte

Für die Flucht einer Frau, die vor zwölf Jahren ihren vierjährigen Sohn nach West-Berlin schmuggelte, gibt es als einzige „Belege“ nur ein „BZ“-Foto und ein Ausstellungsexponat im Checkpoint Charlie  ■   Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Es ist eine seltsame Geschichte, die sich am 4. Mai 1987 abspielte. Anneliese Trauzettel schmuggelte ihren damals vierjährigen Sohn Mike, den sie mit einer Schlaftablette ruhiggestellt hatte, in einer zweirädrigen Taschenkarre von Ost- nach West-Berlin. Doch während bei anderen Fluchtgeschichten alle Medien groß berichteten, war die BZ die einzige Zeitung, die darüber schrieb, wie die Mutter, die als Frührentnerin schon öfters in West-Berlin war, ihren Sohn im Einkaufswagen über den Bahnhof Friedrichstraße in den Westen brachte. Einzige „Beweise“: ein BZ-Foto, auf dem die Mutter samt Einkaufswagen und Sohn am Eingang zur U-Bahn-Station Kochstraße steht, und das „Fluchtobjekt“, das im Haus am Checkpoint Charlie steht.

Mutter und Sohn nahmen gestern vormittag erneut Aufstellung vor dem Einkaufswagen, der zusammen mit dem Zeitungsartikel die Flucht dokumentieren soll. Der damals 4jährige Mike wurde gestern 16 Jahre alt. Vom Museum bekam er einen CD-Player geschenkt, und Leiter Rainer Hildebrandt lobte die Flucht der Mutter als „Meisterwerk“. Während die 55jährige für die Fotografen den linken Arm nach oben riß und die Hand zur Faust ballte, stand ihr Sohn verlegen daneben und fragte immer wieder: „Wie lange muß ich denn noch?“ Er ist geistig behindert und kam mit der Rolle, die er spielen sollte, nicht so recht klar.

Dafür nutzte seine Mutter die Gelegenheit, um sich einiges von der Seele zu reden.„Sie sind der Direktor des Museums“, sagte sie zu Rainer Hildebrandt, „aber Sie interessieren sich auch für das Schicksal hinter den Menschen.“ Der 84jährige Hildebrandt, der von ehemaligen Mitarbeitern wegen undurchsichtiger Finanzgebaren und Vetternwirtschaft angefeindet wird, bedankte sich mit den Worten: „So, das war's, schön.“.Doch für Anneliese Trauzettel war's das noch lange nicht. Sie erzählte von ihren vier Kindern, die ihr in der DDR weggenommen wurden, „weil mein Mann trank“, von drei Söhnen, die sie wiedergefunden habe, und von der Tochter, die noch spurlos verschwunden sei. Als sie sagte, daß Mike endlich seine Schwester kennenlernen möchte, wischte sich dieser mit dem Anzugärmel die Tränen aus den Augen und lächelte tapfer weiter in die Kameras. „Die Adoptionsvermittlungsstelle weigert sich, meine Tochter zu suchen!“ schimpfte seine Mutter. „Denen sollte man auf die Füße treten!“ Rainer Hildebrandt, der unter Schwerhörigkeit leidet, unterbrach sie mit den Worten „So, schön.“

Anneliese Trauzettel, die nach einer zweiten Eheschließung Atkin heißt, ist eine einfache Frau, deren Leben im Westen auch nicht viel rosiger als im Osten verlaufen ist. Nachdem sie in Neukölln, Bayern und Hamburg lebte, zog sie nach dem Mauerfall zurück nach Berlin. Auch mit Männern hatte sie wenig Glück. Vor ihrem jetzigen Ehemann hält sie sich versteckt. „Verraten Sie ihm bloß nicht meine Anschrift“, bittet sie die Journalisten. Die Epileptikerin lebt von einer kleinen Rente und bekommt Hilfe von einem freien Träger, dessen Namen sie auch nicht nennen will. Die Geschäftsführerin und ein Betreuer nahmen gestern an der Geburtstagsfeier teil. „Wir kümmern uns um seelisch Benachteiligte und psychisch Kranke“, erzählt die Geschäftsführerin Ursula Gobes. Ob sie an der Fluchtgeschichte zweifeln soll, weiß sie nicht so richtig. „Welches Interesse soll die DDR gehabt haben, sie rauszulassen?“ fragte Ursula Gobes unsicher und beantwortete die Frage gleich selbst. „Sie war doch nur ein Kostenträger.“ Eben, Grund genug für die DDR, solche Leute gehen zu lassen.

Auch Anneliese Atkin mußte unbequeme Fragen beantworten. Warum keine andere Zeitung über ihre Flucht berichtete? „Es interessierte sich sonst niemand“, lautete ihre Antwort. Sie habe, nachdem sie an der U-Bahn-Station Kochstraße ausgestiegen sei, den Zugabfertiger gebeten, den Kontakt zur BZ herzustellen. „Ich würde ihr die Geschichte glauben“, sagte Ursula Gobes schließlich. Doch für sie ist die Fluchtgeschichte ohnehin nur ein kleiner Baustein einer traurigen Lebensgeschichte:„Wenn einer danebengreift“, sagte sie, „ist sie das.“

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