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Martyrium auf Zeit

■ Das Zusammenleben mit zwei Diplomantinnen erfordert viel Geduld, Flexibilität und eine Menge übermenschlichen Mitgefühls. Ein Erfahrungsbericht von einem Jahr Dauerstreß

Zugegeben, ich hatte noch Glück. Der totale Zusammenbruch blieb aus. Statt dessen verteilten sie ihre schlechte Laune gleichmäßig über 52 Wochen. Es gab keine Heul-Arien und keine Fluchtversuche, die ich vereiteln mußte. Und auch zum Korrekturlesen der 100seitigen Arbeiten wurde mir gnädig mehr als eine Nacht Zeit gegeben.

Trotzdem bin ich froh, daß es vorbei ist: Ein Jahr in einer WG mit zwei Diplomantinnen. 356 Tage begannen einer wie der andere: So gegen halb sieben werde ich von Aufsteh-Geräuschen geweckt. Morgens kann frau eben am besten lernen. Ich stehe nicht gern vor acht auf, und ich frühstücke auch ungern allein. Wollte ich letzteres vermeiden, mußte ich jedoch ein Jahr lang ersteres in Kauf nehmen. Geboten wurde mir dafür die Gesellschaft von zwei schlechtgelaunten Frauen im Jogginganzug – meinen lieben Freundinnen Hannah und Karin.

An guten Tagen gelang es mir durch den Einsatz frischer Brötchen, die Stimmung erträglich zu gestalten. Aber wehe, ich hatte die Croissants vergessen. Das wurde mit erbarmungslosem Sich-hinter- der-Zeitung-Verschanzen bestraft.

Zum Glück diplomierten die beiden in Pädagogik. Sie konnten ihr Gefühlsleben vorbildlich reflektieren. „Ich hab' schlechte Laune“, lautete eine Erklärung. Manchmal erklang auch die Kurzmeldung: „Keinen Bock“. Wer könnte da noch böse sein?

Welch übermenschliche Leistung meine beiden Mitbewohnerinnen tagsüber vollbrachten, konnte ich nie ermessen. Ich hatte es gut, durfte fünf Tage pro Woche zehn Stunden lang rausgehen und arbeiten. Da konnte ich doch die Gelehrten nicht mit so überflüssigen Dingen wie Bad-Putzen behelligen.

Auch die Prüfungen selbst erforderten größtes Mitgefühl. Vor allem Flexibilität. Denn während Hannah bereits Wochen vor dem großen Tag von nichts anderem mehr redete, lief ich bei Karin Gefahr, den Termin herzlos zu vergessen. Denn Madame hüllte sich in Schweigen.

Einig waren beide sich allerdings in ihrer periodisch wiederkehrenden Überzeugung, die da lautete: „Ich kann das eigentlich gar nicht. Hoffentlich merkt es keiner.“ Hier half nur noch der sachdienliche Hinweis, daß Noten dem kapitalistischen System dienen. Jede gute Revolutionärin sollte deshalb über derartig bürgerlicher Etikette stehen.

Nicht zu unterschätzen waren die Sekundäreffekte der Lernerei. Zum Beispiel die aus der schlechten Laune resultierenden Beziehungsprobleme. Auch die wollten mit meiner Hilfe bearbeitet werden. Zum Dank leugneten die Herren zuweilen ihre Zuständigkeit für die emotionale Prüfungsvorbereitung ihrer Liebsten und fragten sie statt dessen: „Ist denn von deinen Mitbewohnerinnen keine da?“

Aber, wer wollte all diese Mühen aufrechnen an dem Tag, an dem die lieben, klugen Freundinnen die letzte Prüfung hinter sich brachten? Jetzt war kein Blumenstrauß zu groß, kein Restaurant zu teuer. Schließlich hatten wir die Erlösung aus einem einjährigen Martyrium zu feiern – alle drei. Heike Dierbach

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