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Massenflucht ins Armenhaus Europas

Seit Beginn des Jahrhunderts haben sich die Kosovo-Albaner von ihren „Brüdern und Schwestern“ im Nachbarland entfremdet. Jetzt flüchten 400.000 Vertriebene in die riesigen Zeltlager in Albanien. Die Hilfsorganisationen befürchten neue Spannungen.  ■ Aus Tirana Philipp Maußhardt

Ein Schild vor der Sporthalle von Tirana heißt die „Brüder und Schwestern“ aus dem Kosovo „herzlich willkommen“. Das Schriftband ist deshalb so groß und unübersehbar, weil die Verwandten aus dem Nachbarland in Albanien bis vor kurzem alles andere als willkommene Gäste waren. Seit 86 Jahren hat die Grenze Kosovaren und Albaner einander entfremdet, und unter dem Diktat von Enver Hodscha wurden die „verwestlichten“ Kosovo-Albaner in Albanien sogar gänzlich aus der Familie ausgeschlossen: „Unsere Freunde“ nannte man sie in Tirana damals nur noch – als „Brüder und Schwestern“ galten die Chinesen.

Jetzt wächst wieder zusammen, was zusammengehört. Zumindest verbal leiden die Albaner mit den Flüchtlingen mit, und sie begleiten die Flüchtlingstrecks, die von Norden kommen und die Landstraßen verstopfen, mit bedauernden Kommentaren. Bis heute hat das „Armenhaus Europas“ schon knapp 300.000 Flüchtlinge aufgenommen, und beim Internationalen Roten Kreuz rechnet man damit, daß in den nächsten Tagen 100.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo dazukommen. Damit machen die Vertriebenen schon mehr als zehn Prozent der eigentlichen albanischen Bevölkerung aus, beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR rechnet man schon vorsorglich mit Spannungen zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen.

Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört

„Das war mit der Grund dafür“, sagt der deutsche Architekt Ulrich Jedelhauser, „daß wir das Lager hier so weit vor der Stadt aufgebaut haben“. Jedelhauser hat im Auftrag des deutschen Technischen Hilfswerks (THW) auf dem Reißbrett ein Flüchtlingscamp für maximal 18.000 Menschen entworfen. In Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen aus der Schweiz und aus Frankreich soll das riesige Zeltlager ab nächster Woche gefüllt werden. Noch sind nicht einmal die Toiletten für die Zeltstadt gebaut, da kamen gestern schon die ersten Flüchtlinge an. Die Zeit drängt. Ein paar bezahlte Arbeiter schlagen Zeltheringe in den lehmigen Boden, während der Schweizer Aufseher bei diesen Arbeiten die Hände über dem Kopf zusammenschlägt: „Nicht so herum! So herum!“ Freiwillige Helfer aus der albanischen Bevölkerung sind in den Flüchtlingslagern kaum zu finden. Soviel Geschwisterliebe kann man wohl noch nicht erwarten.

Das vom THW geplante größte albanische Flüchtlingslager wird ausgerechnet neben der Müllkippe der Hafenstadt Durräs entstehen. Es stinkt bestialisch nach Abfall, und zwischen dem Unrat suchen die Ärmsten der Armen nach Resten, die sich noch gebrauchen oder verkaufen lassen. Die nächste Siedlung liegt mehrere Kilometer weit entfernt, und über den sumpfigen Wiesen am Wegesrand schwirren selbst an trockenen Tagen die Mückenschwärme. In diese Umgebung will man demnächst 18.000 Flüchtlinge setzen, die über die Grenzen geflohen sind. THW- Mitarbeiter Jedelhausen sagt vorauseilend und entschuldigend: „Wir werden die Müllkippe einzäunen oder sie sogar zuschütten.“

Ob dafür überhaupt noch Zeit bleibt, bevor das Lager voll ist, kann bezweifelt werden. Alle Maschinen, Lastwagen und sonstiges Gerät des Technischen Hilfswerks stehen nämlich schon seit Tagen auf dem Zollhof im Hafen, weil dessen Chef für die Abfertigung der Sendung nicht das übliche Bakschisch erhalten hat. Da kann die deutsche Botschaft noch so viele Faxe schicken: Erst kommt die Bestechung, dann die Hilfsbereitschaft. Genauso erging es einem Hilfstransport des Bayerischen Roten Kreuzes, beladen mit Zelte und Decken. Tagelang hielt man ihn im Hafen von Durräs fest.

Immerhin ein Lichtblick in der Hauptstadt Tirana: Ein altes Ehepaar hat seinen Kleiderschrank ausgeräumt und bringt sechs Plastiktüten voller Wäsche zum Freibad. Dort ist ebenfalls ein großes Lager, mehrere tausend Menschen kampieren in Armeezelten. Gestern munterten Artisten vom Zirkus Tirana die Kinder auf, bei jedem Applaus riefen die hohen Stimmchen ein trotziges „UÇK, UÇK, UÇK!“

Ein alter Mann hat sich in einer ehemaligen Schule in Durräs unter einer Treppe einen Schlafplatz eingerichtet. Dort sitzt der Greis auch am Tage und winkt traurig ab, wenn man ihn nach seinem Alter fragt. Was tut's auch zur Sache. Alles, was er noch besitzt, ist ein alter, holzgeschnitzter Hirtenstab, mit dem er einmal in der alten Heimat seine Schafherde hütete. Seine Augen sind leer. Im gleichen Gebäude in einem anderen Zimmer weint Drita Kamberi und ist im gleichen Moment wütend darüber: „Ich weine nicht, weil ich schwach bin“, sagt die 35jährige Lehrerin. „Ich weine, weil ich nicht sagen kann, was ich gesehen habe.“ Sie kommt aus Suva Reka, einer kleinen Provinzstadt und hat sich mit ihren Kindern nach Albanien in Sicherheit gebracht.

Die Frauen sichern das Überleben der Familien

Es sind vor allem die albanischen Frauen, die auf der Flucht das Überleben sichern. Ihre Männer sind zurückgeblieben, freiwillig als Kämpfer in der Rebellenarmee UCK oder unfreiwillig in den Händen der Serben. Ob sie noch leben? Keine der geflüchteten Frauen weiß es. Idriz Buzhala war der einzige erwachsene Mann, als der Flüchtlingstreck mit 73 Dorfbewohnern aus einer Gemeinde bei Jakova hinausgetrieben wurde – „wie Vieh“, sagt der 71jährige. Jetzt lebt die entwurzelte Gemeinschaft in vier Zelten eines Lagers zwischen Tirana und Durräs, und irgendwie fühlt sich der alte Mann verantwortlich für all die Kinder und Frauen seines alten Dorfes. Doch während er zwischen den Zelten auf und ab läuft, eine Zigarette raucht und seine Verantwortung trägt, schmeißen die Frauen den Alltag: Sie waschen die Wäsche an einem Bachlauf, tragen Wasser in Eimern herbei und bereiten auf kleinen Gaskochern aus dem wenigen, was sie bekommen können, eine Mahlzeit. Sie sind es, die die Kinder versorgen und die alten und kranken Frauen pflegen.

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