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Die rare Ware Arbeit

Mit dem szenischen Projekt „Eins ist Noth oder was tun wir heute“ erkundet der Regisseur Manfred Weiß in Mannheim soziale Selektion durch Arbeitslosigkeit. Das Stück zeigt, wie wenig psychologische Schulung gegen Existenzangst ausrichten kann  ■   Von Jürgen Berger

Gerade war er noch Teil einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich ausschließlich über Erwerbsarbeit definieren. Plötzlich steht er auf der Straße und bewegt sich dabei auf einem schmalen Grat: Auf der einen Seite droht der Abgrund, den Tag mit Kaffeetrinken, Zeitungslesen und wieder Kaffeetrinken verbringen zu müssen. Zum anderen könnte er sich mit der Flucht in die Selbständigkeit die Zeit totschlagen oder seine Zeit im Arbeitsamt absitzen.

Zeit ist das größte Problem von Arbeitslosen. Welche Rolle Zeitempfinden im Leben von Menschen hat, die keine zusammenhängenden Arbeitsbiographien konstituieren und sich nicht mehr im Wechsel von Arbeits- und Freizeit definieren können, ist eine der unbeantworteten Fragen sich globalisierender Arbeitsmärkte. Daß uns eine Gesellschaft ins Haus steht, in der nur noch zwanzig Prozent einen Job haben werden, so daß jede Vollbeschäftigungsparole aus Politikermund bloß noch als Rhetorik wahrgenommen wird, gilt dagegen als sicher – obwohl niemand weiß, ob es tatsächlich so kommen wird. Realität ist allerdings schon jetzt, daß sich im gesellschaftlichen Verteilungskampf um die rare Ware „Arbeit“ eine Art Fleischwolf etabliert hat, mit dem Firmen die Ware „Arbeitskraft“ in ihre Einzelteile zerlegen, um sie danach für brauchbar oder unbrauchbar zu erklären.

Der Fleischwolf nennt sich „Assessment-Center“. In ihm werden Eigenschaften wie Teamfähigkeit, Führungsqualität und Konzentrationsfähigkeit mittels Rollenspielen getestet. Da in diesen Testgruppen niemand weiß, wer Konkurrent oder verdeckter Beobachter ist, haben diese betrieblichen Peep-Shows einen starken theatralischen Gehalt. Nicht zuletzt deshalb hat der Autor und Regisseur Manfred Weiß das Assessment-Center ins Zentrum seines szenischen Projekts „Eins ist Noth“ gestellt. Und nicht zuletzt wegen der gesellschaftlichen Relevanz der zunehmenden Trivialpsychologisierung unserer Lebenswelt zum Zwecke der Arbeitskraftselektion ging das Mannheimer Nationaltheater mit der Uraufführung des Projekts ins Landesmuseum für Technik und Arbeit, wo dem Ganzen eine ironische Wendung zuteil wird.

Der Zuschauer passiert auf seinem Weg zur kleinen Spielfläche im unteren Foyer Exponate des Museums. Auch dort sind schlichtweg Arbeitsplätze in Form museal aufbereiteter Büroensembles zu sehen, die späteren Generationen zeigen, wie das einmal war, als der Mensch sich seine Identität noch am Arbeitsplatz und in der Auseinandersetzung mit Kollegen zusammenbastelte. Auf der Spielfläche dann schickt Weiß drei Schauspielerinnen und Schauspieler in den Assessment-Käfig, braucht zur Umsetzung allerdings nur eine Reihe schmuckloser Plastikstühle.

Zwischen diesen Stuhlreihen ist jeder des anderen Wolf. Zeitempfinden spielt insofern eine zentrale Rolle, als Weiß einen ungeheuren Zeitdruck inzeniert hat und seine Akteure individuelle Ausformungen eines Phänomens spielen, das man Zeithysterie nennen könnte. Eine Frau etwa kommt nie mit der vorgegebenen Zeit zurecht. Ein anderer will den Lockeren spielen und zeigt um so deutlicher, wie in ihm die Angst rast, er könnte etwas verpassen oder eine falsche Antwort geben.

Der Witz der Geschichte: Manfred Weiß hat lange in Assessment-Centern und Arbeitsämtern recherchiert. Er hat mit Arbeitslosen gesprochen und Institutionen der boomenden Branche besucht, in der Arbeitslose mittels Motivationstraining auf Stress in Bewerbungssituationen vorbereitet werden. Alles, was an Szenarien in seinem zweistündigen Abend auftaucht, bis hin zur Überraschungsfrage „Onanieren sie eigentlich manchmal?“, ist also authentisches Material aus dem Schlachthaus „Arbeitsmarkt“. Auf der Bühne allerdings wird der komödiantische Gehalt einer zynischen Situation sichtbar, in der die Testpersonen zwar wissen, daß das Szenario bloß simuliert wird, sich dann aber trotzdem verhalten, als ginge es um Leben und Tod.

Wenn in einem Rollenspiel alle aufeinander losgelassen werden und entscheiden sollen, wer von ihnen aus einer überfluteten Höhle gerettet wird, machen die Mannheimer Akteure daraus biographische Studien. Die Zuschauer sind derweil belustigt und können sich angesichts der Spiele aus den Rekrutierungsabteilungen deutscher Unternehmen wie Betrachter einer nachmittäglichen Selbstentblößungs-Talkshow fühlen. Zugleich weiß natürlich jeder, daß er im Falle von Arbeitslosigkeit auch in das imaginierte Haifischbecken springen würde. Die Reaktionen der Schauspielerinnen und Schauspieler, die per Improvisation entwikkelt wurden, entpuppen sich als Theater mit dramatischer Fallhöhe.

Anders als in Urs Widmers/Volker Hesses Bühnenrenner „Top Dogs“ sind die Fallstudien, die Weiß zusammengestellt hat, nicht in Führungsetagen, sondern im Bereich durchschnittlicher Biographien angesiedelt. Damit wandelt er auf den Spuren der amerikanischen Schauspielerin und Autorin Anna Deavere Smith, die mit „Twilight L. A.“ und „House Arrest“ ähnliche theatralische Realitätserkundungen in Szene gesetzt hat (siehe taz vom 23. 9. 97 und 29. 12. 97). Zudem hat Weiß das Thema Arbeitslosigkeit wieder szenisch aufgearbeitet, nachdem Christoph Schlingensief mit „Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland“ Angriffstheater aus ihm destilliert und als Happening in die Stadt getragen hat.

Die transportable Produktion mit dem etwas beschwerlichen Titel, den man einer anonymen Flugschrift aus dem Umfeld Georg Büchners entlehnte, soll nach ihrem Ersteinsatz auch in Betrieben gezeigt werden, während im Nationaltheater parallel dazu Podiumsdiskussionen stattfinden. Im Juni dürfte das Forum mit einem Vortrag des New Yorker Soziologen und Kulturkritikers Richard Sennett spannend werden, der in „Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“ einerseits beschreibt, daß der arbeitslose Mensch die Erfahrung einer „zusammenhangslosen Zeit“ mache und in Gefahr der Zerstörung seines Charakters lebe. Andererseits meint er dann aber doch, daß jeder es in der Hand habe, „aus der kurzfristigen Arbeit, amorphen Institutionen, oberflächlichen gesellschaftlichen Beziehungen und der ständigen Gefährdung der Arbeitsstelle eine persönliche Karriere zu machen“. Könnte Motto eines Assessment-Centers sein.

„Eins ist Noth“, Buch und Regie: Manfred Weiß. Mit Tobias Beyer, Andreas Domanski, Heinz Kersten, Friederike Pöschel, Monika Margret-Steger, Susanne Weckerle. Nächste Vorstellungen im Mannheimer Landesmuseum: 14., 15., 21. 4.

Zwischen den Stuhlreihen im Assessment-Käfig ist jeder Schauspieler des anderen Wolf

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