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"Wahn ist leicht zu erzeugen..."

■ ...und schwer zu korrigieren: Ein Gespräch mit dem Ethnopsychoanalytiker Paul Parin über die Riten der Diplomatie und die Psyche der serbischen Bevölkerung, die Versäumnisse des Westens und den real existi

Paul Parin lebt in Zürich. Er wurde als Sohn eines Gutsbesitzers 1916 in Slowenien geboren und ist ausgebildeter Mediziner. 1944 schloß er sich Titos Partisanen an. Anfang der fünfziger Jahre gründete er eine psychoanalytische Praxis in Zürich. Mit seiner Frau, Goldy Parin-Matthey, und Fritz Morgenthaler bereiste er Westafrika und begründete die Ethno- Psychoanalyse. Seine Forschungen über die Dogon und die Agni („Die Weißen denken zuviel“, „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst“) erschienen im Suhrkamp Verlag. 1992 veröffentlichte Paul Parin seine Partisanen-Erinnerungen unter dem Titel „Es ist Krieg, und wir gehen hin“. Zum Konflikt auf dem Balkan veröffentlichte 1998 er zuletzt den Aufsatz „Ethnisierung der Politik. Ex-Jugoslawien vom Nationalkommunismus zum Nationalsozialismus“ im Sammelband „Das Faschismus-Syndrom“, herausgegeben von Emilio Modena im Psychosozialverlag, Gießen.

taz: Sind die Formen westlicher Diplomatie bei Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Kulturen verbesserungsfähig?

Paul Parin: Die Umgangsformen westlicher Diplomatie haben sich in allen Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, durchgesetzt. In Ländern der Dritten Welt, insbesondere Afrika, hat es sich erwiesen, daß die genaue Beachtung westlicher Umgangsformen immer als Zeichen von Respekt und die Mißachtung dieser Etikette als Herabsetzung verstanden wird. Im Falle Serbiens hat man es mit einer Klasse zu tun, die sich seit den Unabhängigkeitskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts an der Diplomatie Frankreichs geschult hat. Dieser Einfluß ist meines Erachtens stärker als der russische oder kommunistische zur Zeit der Freundschaft Titos mit der Sowjetunion, also bis 1948.

Gesetzt den Fall, Sie hätten die Verhandlungspartner in Ihrem Besprechungszimmer – wie würden Sie versuchen, eine Einigung zu erzielen?

Es käme mir absurd vor, zum Beispiel die Albaner vom Kosovo und die Vertreter des Regimes von Slobodan Milošević zum Zweck einer Einigung in irgendein Besprechungszimmer einzuladen. Ich befände mich in der Lage des damaligen britischen Premierministers Chamberlain 1938. Nach München wurde er in ganz Europa als Friedenspolitiker gepriesen – erst die Geschichte läßt ihn als einen realitätsblinden Narren erscheinen. Wir müssen bedenken: Die Zerstückelung der Tschechoslowakei war Hitler vom Völkerbund zugestanden worden. Nicht anders gingen EU und UNO vor, als die Krajina, Slawonien und weitere Territorien Kroatiens, später ein Großteil von Bosnien-Herzegowina erobert wurden. Während aber die Aufteilung Polens zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion vorerst keine Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung vorsah, waren die Kriege der jugoslawischen Armee, die sich für die großserbische Option entschieden hatte, darauf angelegt, „ethnisch reine“ Gebiete zu schaffen.

Halten Sie Milošević überhaupt für erreichbar? Stimmen Sie dem sich verfestigenden Bild eines unzugänglichen Mannes, des „klinischen Falles“, zu?

Ich kenne Milošević nicht persönlich. Im November 1991 habe ich Professor Zarko Puhovski, Professor für politische Philosophie an der Universität Zagreb, getroffen. Damals lag Vukovar unter Beschuß der jugoslawischen Armee. Bukowski sagte: Leider ist Milošević der einzig fähige, moderne Politiker, den wir in Jugoslawien haben. Er ist völlig rücksichtslos, empfindet persönlich wohl nicht nationalistisch, verdankt aber seine Macht den nationalen Parolen, mit denen er den Bund der Kommunisten Jugoslawiens schrittweise zum großserbischen Nationalkommunismus und später -sozialismus umgewandelt hat. Journalisten, die Milošević persönlich kennen, bestätigen mir, daß er intelligent und machtgierig, aber kein überzeugter Nationalist sei.

Schon 1989 war allzu deutlich, wie Milošević mit chauvinistischen Parolen hetzte und Greuelmärchen über sexuelle und kriminelle Untaten der Albaner gegen die Serben verbreitete. Er ließ in Serbien und Montenegro Massen aufmarschieren, peitschte die Öffentlichkeit auf und organisierte einen Unterdrückungsfeldzug, während er sich auf den uralten Anspruch des großserbischen Reiches berief, die Provinz, die Serbien vor sechshundert Jahren verloren hat, wieder zu unterwerfen. Eine mächtige faschistische Bewegung ist in dem Staatsgebilde entstanden, das vor mehr als 40 Jahren aus dem antifaschistischen Kampf hervorging.

Aber ein Politiker, dessen Ideologie wahnsinnig erscheint, muß keineswegs wahnsinnig sein. Für die individuelle Psyche, die einen Verfolgungswahn ausbildet, gelten andere Gesetze als für ein Volk oder einen Staat. Die Opfer-, Täter- oder Sündenbock-Theorie kann als gemeinsames Vorurteil ein ganzes Volk psychisch entlasten, ohne daß dessen Initiatoren oder Betreiber und Anhänger geistig gestört sein müssen. Wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs hielt die damalige deutsche Öffentlichkeit „die Briten“ für eine barbarische Nation, und umgekehrt meinte man in England, die Kaiserdeutschen verspeisten ihre eigenen Kinder. So ein kollektiver Wahn war auch ohne Radio und Fernsehen leicht zu erzeugen, aber schwer und erst viel später zu korrigieren.

Die Medien haben sich in wesentlichen Fragen (Exekution von Albaner-Führern, Konzentrationslager) zeitweise widersprochen bzw. korrigieren müssen. Wie entscheiden Sie über die Glaubwürdigkeit von Nachrichten?

Es gibt Meldungen, die sich selbst als unglaubwürdig korrigieren. Während der Belagerung von Sarajevo wurde gemeldet, die Bosnier hätten ihr einziges noch funktionierendes Spital und den Marktplatz von Sarajevo selbst beschossen – es gab mehr als 60 Tote allein im zweiten Fall –, „um Mitleid zu erzeugen“. Das wurde von der Unprofor richtiggestellt.

Die große Vertreibung der Albaner aus Kosovo setzte mit der Zerstörung des Dorfes Dreniza und mit dem Massaker der dortigen Bevölkerung ein. Seither waren alle Meldungen, die auf „ethnische Säuberungen“ hinwiesen, glaubwürdig. Überfälle und Vertreibung aus anderen Dörfern und Städten verliefen nach dem Muster, wie es aus Bosnien und Herzegowina bekannt ist: Artelleriebeschuß, Vertreibung der noch lebenden Personen, des öfteren die Trennung der Männer von Frauen und Kindern, die Ermordung der Männer und anschließend die Zerstörung der Baulichkeiten. Bei vielen einzelnen Meldungen muß man auf eine Verifizierung warten.

Wie bewerten Sie die Tendenz zur semantischen Dramatisierung (Milošević wurde vom „Präsidenten“ zum „Führer der Serben“, die „Vertreibung“ der Albaner wurde zum „Völkermord“)?

„Führer der Serben“, „Präsident“ und „Vertreibung“ sind gültige Ausdrücke. „Völkermord“ sollte erst nach einer juristischen Einschätzung in bezug auf die Menschenrechte verwendet werden. „Schlächter“ und andere Vokabeln dieser Art geben lediglich die emotionale Einschätzung des Verfassers wieder. Verständlich, aber kein guter Journalismus.

Allerdings spreche ich von faschistischer Ideologie und lehne Bezeichnungen wie nationalistisch, faschistoid und dergleichen als beschönigend ab.

Nehmen Sie bei dürftiger und verwirrender Nachrichtenlage das Schlimmste an, oder vermuten Sie Übertreibungen zugunsten einer Art moralischer Aufrüstung?

Übertreibungen von Missetaten der anderen Seite und Unterlassungen bezogen auf die eigene sind eine verläßliche Folge kriegerischer Konflikte. Selbstverständlich sollte man Vermutungen nur aufgrund politischer Analysen und nicht nach Maßgabe der eigenen Ängste und Betroffenheit ableiten.

Halten Sie die derzeitige Situation für eine notwendige Folge bisheriger diplomatischer und politischer Versäumnisse?

Die derzeitige Lage ist durch eine falsche Politik der westlichen Staaten mitbestimmt. Ob es notwendig so kommen mußte, müssen Historiker später entscheiden.

Betrachten Sie Milošević als Repräsentanten einer Mehrheit und „typischen Mentalität“?

Milošević repräsentiert zumindest seit dem Beginn der Angriffe der Nation die Mehrheit der Serben. Typisch ist die Mehrheit für ein Volk, das seit etwa 13 Jahren durch Ethnisierung der Politik mittels Propaganda, Verführung und Druck und seit 10 Jahren durch die nationalistisch inspirierten Kriege seiner Regierung schuldig UND zum Opfer der Aggression vieler westlicher Völker geworden ist.

Wie beurteilen Sie die serbische Öffentlichkeit? Sehen Sie eine schuldhafte Ausblendung von Verantwortung, oder neigen Sie eher zu der Ansicht, es gab dort noch zuwenig Chancen, eine kritische Öffentlichkeit zu entwickeln?

Zumindest in Belgrad und einigen anderen Städten hatte sich vor zwei Jahren eine imposante kritische Öffentlichkeit entwickelt. Im kalten Winter 1996/97 gab es monatelang Demonstrationen von Hunderttausenden in den Straßen. Für die verfestigte Diktatur mit demokratischem Anstrich von Milošević war es leicht, diese Opposition auszusitzen. Wenn man für den heutigen Krieg eine schuldhafte Ausblendung von Verantwortung benennen will, ist es die Fortsetzung der Politik des „containment“ in bezug auf die albanische Frage. Schon vor dem Abkommen von Dayton im Dezember 1995 hatte der Westen die traditionelle Abgrenzung ohne Einmischung (containment) so lange durchgehalten, bis die Greuel der Vertreibungen ein Eingreifen unumgänglich machten. Milošević' Ankündigung der Absicht, Krieg zu führen, Gebiete zu erobern, andere Völker zu vertreiben, wurde außerhalb Jugoslawiens lange nicht zur Kenntnis genommen. Vielleicht haben Unterschiede der Verfassung der Republiken in Ex- Jugoslawien zu den Regimen des Nationalsozialismus und Faschismus die Fehleinschätzung im Westen mitbedingt. Mussolini und Hitler hatten die Parlamente aufgelöst und andere Parteien verboten, während in Serbien und Kroatien eine Fassadendemokratie erhalten blieb. Auf einen eigenen Gewaltapparat (Falange, Fascio, SA, SS) konnte man verzichten. Dieser war, einschließlich der Staatspolizei, bereits vorhanden.

Auch die Jahre des gewaltfreien Widerstands der Albaner im Kosovo wurden nicht genutzt. Milošević hatte sein Kriegsziel Großserbien nach Dayton aufgeben müssen und die Reinigung des „heiligen Bodens“ vom Kosovo und seine Verteidigung „gegen die ganze Welt“ zum Kriegsziel erhoben. Nach der Drohung von Luftschlägen und der Versicherung, daß es keinen Bodenkrieg geben würde, verstand er, daß der Vertreibung nichts mehr im Wege stand. So konnte er seine Macht festigen und fast alle Serben unter seine Herrschaft scharen.

Ist die Entwicklung zu kleineren Nationalstaaten auf dem Balkan eine notwendige Regression, eine taugliche vorübergehende Lösung, ein Verhängnis?

Allgemein gültige Prinzipien wie kleinere Nationalstaaten oder das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien geben keinen Anhaltspunkt für eine künftige Lösung. Nur die Analyse der jeweiligen Möglichkeiten würde es erlauben, günstigere und aussichtsreichere von ungünstigen Lösungen zu unterscheiden. Interview: Elke Schmitter

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