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Erfolgreiche Demontage

■ Mit „Das Herz eines Boxers“ zeigt das Schnürschuh-Theater ein erfrischend gegenwärtiges Jugendstück ohne die üblichen Klischees dieses Genres

Neulich sagte jemand, die neue Straßenbahnführung am Bahnhof werde ein echter Rentnerkiller. Der Herr, der hier auf der Bühne des Schnürschuh-Theaters still und mit einer geblümten Decke über den Knien im Rollstuhl sitzt, läuft vor kein Verkehrsmittel mehr. Glaubt Jojo jedenfalls.

Mit Leiter und Farbe bepackt tritt Jojo ins Zimmer. Er gehört zur Knackibrigade „Schöner Wohnen“, ins Sozialjuristische übersetzt: Er muß gemeinnützige Arbeit leisten. Jojo, ein vielleicht sechzehnjähriger Schlacks, quasselt drauf los, als wär's eine höchstrichterliche Anordnung.

„Ich bin genau so ein Trottel wie du“, sagt Jojo dann, auf der Leiter sitzend. Denn er ist eigentlich unschuldig. So beginnt die Demontage klassischer Jugendtheatersettings. Lutz Hübners „Herz eines Boxers“, 1998 mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet, hat durchaus heutige Qualitäten. Beide Figuren reißen die Klischeebilder cooler Kleinkrimineller hier, hilfloser Opa dort, bald ein. Es bleibt die Geschichte einer flüchtigen Begegnung über Generationengrenzen hinweg. Von Reinhard Lippelt ohne genretypischen Hauruckrealismus in Szene gesetzt. Im fast leeren Raum: eine weiße Fläche deutet das Zimmer an. Einige Kartons stehen da, ein Koffer. Neutralschwarze Wände, davor, verdreht, halb in der Luft hängend, die Ecken eines Boxrings.

Überhaupt, das Boxen. Jojo findet in einem Karton alte Zeitungsausschnitte. Vom „Roten Leo“, seinen Kämpfen, der Begegnung mit Boxfan Brecht usw. Der Alte, ehemaliger Boxer, der den Schlaganfall vorgetäuscht hat, um nicht in die Geschlossene zu kommen. Was war geschehen? „Manchmal glaube ich, die sehen das nicht so gerne, wenn ein Opa einen jungen Pfleger auf die Bretter schickt.“ Doch ist Leo keineswegs Schläger, im Gegenteil. Sein Boxerherz ist riesengroß. Weisheiten einer vergangenen Zeit weiß er zu berichten. Und Jojo lauscht.

Das Wichtigste ist die Beinarbeit. Alte Boxweisheit. So bleiben Philipp Engelhard und Uwe Seidel stets auf Distanz zu ihren Figuren, was der Szenenfolge farcehafte (und hinreißend komische) Momente beschert.

Zwischendurch läßt sich erahnen, was sich im Jugendtheater so alles Gruseliges abspielen kann. Geschenkt! Man will schließlich nicht nach Berlin oder Salzburg, sondern junge Leute erreichen. Denen aber traut Regisseur Reinhard Lippelt nicht besonders viel zu. Als Jojo von seiner Angebeteten erzählt, obwohl's ihm eigentlich „zu privat“ ist, sehen wir Dias, auf eine Leinwand über der Bühne projiziert. Wie er fotoromanmäßig an einem Mädchen vorbeigeht, sein Blick auf ihr haften bleibt. Projektionen, die – Multimedia, Sie verstehen! – wiederholt eingesetzt werden. Nur: Ist das Bild, das die Worte der zwei in den Zuschauerköpfen entstehen lassen, nicht viel stärker?

Als die gesellschaftliche Bedeutung beiseite geräumt ist, machen sich beide an den Fluchtplan. Leo will raus hier, nach Frankreich zu einem alten Freund. Versuch eins schlägt fehl. Dann hat Jojo die rettende Idee. Leo solle sich als alte Frau verkleiden. Der geniert sich zunächst, willigt dann aber ein. Männer in Frauenkleidern, das ist hier Spiel im Spiel. Witzig und ohne Travestieblödsinn. Und es funktioniert. Jojo sieht durchs Fenster. Bangt, jubelt. Licht aus.

Kein besonders realistisches, aber ein schönes Ende. Jojo wird sich die alten Boxhandschuhe übers Bett hängen, in dem er mit seiner Freundin kuschelt. Leo wird noch ein Weilchen die südfranzösische Sonne genießen. Beide werden Freunde bleiben. Und wir verlassen das Theater ohne Wenn-du-dich-so-verhälst-dann-Anleitung. Was will man mehr.

Tim Schomacker

Weitere Aufführungen: 23.4. um 20 Uhr, 28.4. um 11 und 20 Uhr, 29.4. um 11 Uhr im Schnürschuh-Theater

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