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Land ohne Gerechtigkeit

Peter Handke sucht auf dem Balkan nach der zweiten Kindheit Europas und trifft dabei auf einen anderen Zeitreisenden: auf den Schriftsteller Milovan Djilas   ■  Von Kolja Mensing

Während Peter Handke in seinem Einbaum sitzt, steht das Feuilleton am Ufer und gruselt sich. Handke sei ein „ideologisches Monster“, findet Alain Finkielkraut, Susan Sontag will seine Bücher nicht mehr lesen, und in der FAZ wurde der Ratschlag erteilt, Handke in die Psychiatrie einzuweisen. Natürlich gibt es auch den einen oder anderen, der dem Dichter einen aufmunternden Satz zuruft: Adolf Muschg zum Beispiel lobt, daß Handke „jedenfalls der Verzweiflung immer noch fähig“ sei, und warum Martin Walser vor einer allzu schnellen Aburteilung des Kollegen gewarnt hat, kann man sich denken. Wohin Handke in seinem Einbaum eigentlich will, ist nicht so ganz klar, obwohl er es vor drei Jahren in seinem Reisebericht „Gerechtigkeit für Serbien“ gesagt hat. Wenn auch etwas kryptisch: „Was ich hier aufgeschrieben habe, war neben dem und jenem deutschsprachigen Leser genauso dem und jenem in Slowenien, Kroatien, Serbien zugedacht, aus der Erfahrung, daß gerade auf dem Umweg über das Festhalten bestimmter Nebensachen ... jenes gemeinsame Sicherinnern, jene zweite, gemeinsame Kindheit wach wird.“

Die Kindheit Europas: Man kann, um Handkes Satz und vielleicht seine einsame Flußfahrt in diesen Tagen besser zu verstehen, einen anderen Reisebericht aus der Region wiederlesen. Er ist knapp 40 Jahre vor „Gerechtigkeit für Serbien“ entstanden, und Handke hat sich anscheinend vom Titel inspirieren lassen: „Besudna Zemlja“ ist in Deutschland als „Land ohne Recht“ erschienen, wird aber besser übersetzt als „Land ohne Gerechtigkeit“ – der erste Teil der Autobiographie des jugoslawischen Politikers, Dissidenten und Schriftstellers Milovan Djilas.

Eine Zeitreise: Das Schicksal Milovan Djilas', der 1911 in Polja geboren wurde und 1995 in Belgrad starb, ist eng mit dem Schicksal des Balkans im 20.Jahrhundert verknüpft: Wenn er über seine Kindheit in Montenegro schreibt, dann schreibt er über die Kindheit Jugoslawiens. Sein Montenegro ist mittelalterlich oder mindestens frühmodern: Eine Stammesgesellschaft, auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Führer zuweilen einfach mal beschließen, keine Steuern mehr zu zahlen. Gleichzeitig erzählt Djilas aber vom Wandel. Die „neue Häuptlingsgeneration“, erinnert er sich, hatte in den Balkankriegen von 1912 bis 1914 für und gegen nationalstaatliche Gebietsaufteilungen gekämpf und stellte nun dem montenegrinischen König Nikola „ergebene Beamte und Offiziere“. Aus Haiducken sind Bürger geworden – und ihre Söhne werden nur ein paar Jahre später Kommunisten sein, ergänzt Djilas.

Heiteres Markttreiben, ländliche Idylle

Anfang der 20er Jahre – inzwischen gibt es ein „Königreich Jugoslawien“ – kommt der kleine Milovan aus dem Dorf in die etwas größere Stadt Kolain. Dort hatte die Moderne schon etwas länger Einzug gehalten, politisch und ökonomisch: Die ehemalige osmanische Siedlung war 1878 auf dem Berliner Kongreß im Zuge der „Ordnung“ des Balkans Montenegro zugeschlagen worden, die Stadt entwickelte sich zu einem Handelszentrum. Djilas beschreibt die Markttage aus der Perspektive des staunenden Bergbauernbuben. Und hier, zwischen den Kleinbauern und Kaufleuten, trifft er plötzlich auf einen staunenden Großstädter: auf Peter Handke.

Zumindest kann man sich das vorstellen, wenn man in der „Winterlichen Reise“ liest, wie Handke durch eine kleine jugoslawische Stadt wandert, die zwar nicht Kolain heißt, aber auch einen schönen Markt hat. Er sieht sich alles an und findet es so gerade gar nicht modern. Er freut sich an den „nur auf den ersten Blick einförmigen oder eintönigen jugoslawischen Broten dort auf dem Markt“ und jauchzt: „Eine Lebendigkeit, etwas Heiteres, Leichtes, wie Beschwingtes an dem anderswo gar zu häufig pompös und gravitätisch gewordenen, auch mißtrauischen, halb verächtlichen Vorgang von Kaufen und Verkaufen ... ein Tanz des Handumdrehens.“ Europa riecht gut in diesen Kindheitstagen, tanzt und ist jung und lustig, findet der Zeitreisende Peter Handke. Der Zeitreisende Milovan Djilas sieht dagegen in Montenegro, Jugoslawien, Europa in diesem Moment immer noch das „Land ohne Gerechtigkeit“ und beschreibt einen Totentanz. Also winken die beiden sich kurz zu auf einem Marktplatz, der eine auf dem Weg in die Moderne, der andere auf der Flucht davor. Dann trennen sich ihre Wege wieder: Die „zweite, gemeinsame Kindheit“ stellt sich auf dem Marktplatz von Kolain als Irrtum heraus.

Handke, der Belgrad hinter sich gelassen hatte, reiste dennoch von dort immer tiefer ins Land und in die Vergangenheit, bis er im Winter 1995 in einer Schneewehe an der Grenze zu Bosnien steckenblieb. Mit seinem trotzigen Zurück in den vorzivilisatorischen Zustand und in die „Urwelt“ macht er heute weiter: Handke ist aus der Kirche ausgetreten und hat sich auch von der verwalteten Kultur losgesagt, indem er den BüchnerPreis zurückgeben hat. Und vielleicht träumt er, wenn er dieser Tage durch Montenegro in das Kosovo reist, vom „Bergwald“, der in der „Finsternis rauscht, und ... in der Felswand klagt der Totenvogel.“ Traumsätze, die Handke aufschreiben könnte, wenn Djilas sie nicht schon vor ihm notiert hat.

Für den allerdings gehörten sie in einen Alptraum. Djilas wollte sich von der Urwelt befreien. 1929 verließ er die kleine Stadt mit dem belebten Markt in Richtung Belgrad, dem neuen Jugoslawien entgegen. Er trat 1932 in die Kommunistische Partei ein und nahm später als Cheftheoretiker neben Tito die Rolle des Erziehungsberechtigten für ein Land ein, das niemals so recht erwachsen werden wollte.

Ginge es nach Peter Handke, wird es das auch niemals werden. Der Dichter, der von einer „zweiten Kindheit“ träumt, entdeckt auf seiner Serbienreise selbst das Autofahren als kindlichen Abenteuerroman und ersteht aufgeregt an der Straße Benzin im Handverkauf: „Eine Kostbarkeit, ein Bodenschatz – und wieder hatte ich gar nichts einzuwenden gegen meine Wunschvorstellung, solch eine Art Tanken möge lang noch so weitergehandhabt werden.“ Wenigstens dieser Traum Handkes wird gerade wahr. Dank eines unverhofften Bündnispartners: In den ersten Kriegswochen sind auf dem Gebiet Jugoslawiens neben anderen industriellen Anlagen zwei Ölraffinerien und zehn Treibstoffdepots von der westlichen Allianz zerstört worden. Mit einer Seeblockade soll nun die Treibstoffzufuhr des Landes ganz und gar abgeschnitten werden. Die zweite Kindheit Europas ist ein Irrtum, aber einer, den man korrigieren kann. Peter Handke und die Nato arbeiten daran. Hand in Hand, Abenteurer alle beide.

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