: Stille Nacht
■ Wenn alles schläft, wagt sich der WDR an ein ungewöhnliches Fernsehexperiment: 7 bekannte Gesprächsmeister schweigen unter dem beredten Titel „No Talk“ (2 Uhr, WDR)
Sitzen. Räuspern. Beine übereinanderschlagen. Brille zurechtrücken. Ein Schlückchen Wein trinken. Linkerhand, rechterhand schauen. Das Lachenmüssen unterdrücken. Ans Kinn fassen. Den Kopf aufstützen. Das Kinn aufstützen. Am Ohr kratzen. An der Nase knibbeln. Ein Schlückchen Wein trinken. Einander zuzwinkern. In eine der Kameras schauen. Nicht in die Kamera schauen. (...)
„Ich hab' schon viel im Fernsehen erlebt“, sagte Hilde Knef im September 97, „aber das war mir neu.“ Damals hatte Christoph Schlingensief sich und seine Gäste für das (Gott, hab's selig) Sat.1-Kulturfenster Kanal 4 und seinen komplett extraordinär geratenen Talkshow-Versuch „Talk 2000“ eine TV-Minute lang einfach schweigen lassen.
Uli Wilkes' Fernsehexperiment aber, für das der WDR heute nacht nun endlich einen Sendeplatz gefunden hat, dauert dreißig Mal so lang. Die halbe Hundertschaft deutscher Talkmaster – doch, doch, so viele gibt es wirklich! – hatte der Diplomand von der Kölner Kunsthochschule für Medien angeschrieben, damit sie für ihn und seine Abschlußarbeit vor laufender Kamera letztlich nichts anderes tun als in einer gewöhnlichen Talkshow: dasitzen eben, sich räuspern, vielleicht ein Schlückchen Wein trinken usw. – nur daß sie dabei, so Wilkes' Einfall, kein Wort reden sollten.
Am 10. November 1998 schließlich saßen sieben von ihnen – unter Ausschluß der Öffentlichkeit und für eine Aufwandsentschädigung von 1.000 Mark, Kost und Logis frei – im umgebauten „Boulevard“-Studio von Alfred Biolek, der dem jungen Talent als Professor an der Medienhochschule auch bei der Akquise behilflich war. Die ebenfalls favorisierten Gesprächskollegen Harald Schmidt (von Sat.1 kurzfristig anderweitig verplant) und Marcel Reich-Ranicki (kein Interesse) hatten zwar abgesagt; Alfred Biolek, Günther Jauch, Arabella Kiesbauer, Jürgen Domian, Giovanni di Lorenzo, Bärbel Schäfer und Roger Willemsen hingegen nicht.
32 Minuten hatte Wilkes sie schweigen lassen, mit zehn Kameras dabei zugeschaut und das Experiment anschließend auf ein 30minütiges Stück Ausnahme-TV zusammengeschnitten. Um „Fernsehen mit Fernsehgesichtern für Fernsehzuschauer“ zu machen und „herausbekommen, ob man die Fernsehprominenten so vielleicht privater kennenlernt“. Die Zuschauer sollen, so Uli (“Die Nische ist möglich!“) Wilkes, merken, „daß Fernsehen mehr sein kann als oktroyierte Meinung“.
Und tatsächlich schweigen sie alle anders (“wie“ kann man z. B. im Spiegel nachlesen), tatsächlich ist der Zuschauer ganz auf sich und sein Zuschauen zurückgeworfen, wird er seinen Augen nicht trauen, wenn er sich mitten in der Nacht (Wilkes' Wunschtermin!) zufällig in die prominente Stille zappt.
Leider hat der 28jährige, der während der Aufzeichnung ein paar Meter entfernt seine Versuchsanordnung überwachte, dem eigenen Minimalismus mißtraut – „Ich hatte den Eindruck, daß zwischen der achten und zehnten Minute jeder seine Art zu schweigen gefunden hatte ...“ – weshalb er den Probanden nach zehn Minuten Papier und Schreibzeug aushändigen und nach weiteren zehn Minuten eine Kiste mit Büchern hinstellen ließ. Zuschauer mit videotexttauglichen Stereofernseher mögen auch daran ihre Freude haben können. Schließlich hat der WDR die Schweigerei mit Audiodeskription für Blinde und – auf Videotexttafel 150 – Untertiteln für Gehörlose versehen. Dort steht dann aber auch, was Roger Willemsen aufgeschrieben hat (“Jauch sieht aus wie Mater dolorosa. Alle tragen charakteristische Schuhe. Ich glaube, Arabella ist nett ...“). Oder daß irgendwer auf die Frage: „Kann die Talkshow im Privatleben konstruktive Gespräche initiieren?“, ein trauriges „Selbst wenn – die Zeitverschwendung steht in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn“ hinkritzelte.
Dennoch ist nach den ereignislosen ersten Minuten ein bißchen die Luft raus. Wie fesselnd ist es, den sieben Anschauungsobjekten zunächst bei nichts zuzugucken; und wie öde (oder gemein?), sie hernach einfach bloß beschäftigt zu sehen, schreibend und blätternd, bis Wilkes sie sang- und klanglos ausgeblendet.
Schade auch, daß sich der WDR nicht bereit fand, Wilkes' Anfrage zu berücksichtigen, die Aufzeichnung eine ganze Nacht lang als Endloswiederholung auszustrahlen. Denn Intensität, Intimität und Witz von „No Talk“ kommen erst bei mehrmaligem Anschauen zur vollen Entfaltung. Von den kleinen Highlights – etwa, wenn Arabella ihr „Bäuerchen“ macht (ihr „Körpergeräusch“, wie Wilkes sagt) oder Giovanni, wenn er niest – ganz zu schweigen. Christoph Schultheis
Tatsächlich schweigen alle sieben anders, tatsächlich ist der Zuschauer ganz auf sein Zuschauen zurückgeworfen
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