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Die Kunst des Servierens

Von der Gesellschaftskritik zum Abonnentengeschmack. Die Berliner Akademie der Künste wagt eine Ausstellung zu 45 Jahren Theatergeschichte in Ost und West: „Durch den Eisernen Vorhang“. Über das Spielen und Nichtspielen von Rollen  ■ Von Petra Kohse

Jedes Dasein ist im Kern wohl ein faustisches. Schließlich möchte auch unsereiner zu seinem Augenblick noch nicht sagen: „Verweile doch, du bist so schön!“, und dennoch hat man nichts außer diesem einen, einzigen, lebenslangen Augenblick. Das eigene Jetzt ist immer das Konkrete, das Davor ein bestenfalls gesicherter Verdacht. Deswegen läßt sich Vergangenheitsdarstellung wahrscheinlich nur unter Zeitgenossen als Realitätssicherung betreiben. Nachgeborene erfahren Geschichtsschreibung als eine Art Literatur, teilweise Zeitgenossen aber als seltsames Zerrbild ihrer Welt, in dem reale Figuren plötzlich in irrealen Situationen auftreten.

Diese Überlegungen schmiegen sich an eine Ausstellung zur deutsch-deutschen Theatergeschichte seit 1945, und da bietet sich Peter Handke als Beispiel an. Als zeitunglesender Mensch um die Dreißig erkennt man hinter den autodidaktischen Politposen dieses Schriftstellers heute wohl kaum noch jenen listigen Schöngeist, dessen sprachspielerisches Stück „Kaspar“ 1968 vom Uraufführungsregisseur Claus Peymann als ein politisches noch richtig verteidigt werden mußte. Weder die damalige Forderung nach einer politisierten Kunst noch Handkes einstiges Differenzierungsvermögen sind heute mehr als eine Behauptung, die man auch dann nicht glauben muß, wenn sie sich beweisen läßt.

Oder Claus Peymann selbst, der Gute! In Sachen Gesellschaftskritik immer an vorderster Front gewesen, heißt es, steht in Kritiken, sagt er selbst und scheinen auch Fotografien aus den 70er Jahren zu verbürgen, auf denen er aussieht wie Václav Havel. Seine heutigen Inszenierungen aber gehen mit dem Abonnentengeschmack konform, seine Schimpftiraden gegen Politfunktionäre lesen sich wie Operettentexte, und seine fürstlichen Gagenvorstellungen erledigen eigentlich den Rest.

Dennoch ist Peymann im peymannschen Jetzt ein politischer Theatermacher, desgleichen im Jetzt seiner Zeitgenossen. Ihnen leuchten die Fakten noch, die für Jüngere erloschene Sterne sind – ein Nichtmehr, das von interpretierenden Einordnungen satellitenhaft umkreist wird und sich, zur Grauzone verdichtet, als brechtsches Bodentuch unter die Geschichte des peymannschen Künstlerlebens breiten läßt.

In der Tat nimmt, wer nur Peymanns späte Inszenierungen kennt, die Darstellung des Früheren als Inszenierung wahr. Und damit ist die teilweise Zeitgenossenschaft vielleicht nicht die produktivste, sicher aber die amüsanteste Weise, an Geschichtsdarstellungen teilzunehmen. Zumal sie auch der Sorge enthebt, das Gezeigte an der eigenen Erfahrung entlangbuchstabieren zu müssen. Diesbezüglich nämlich begibt sich die Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste mutig in die Schußlinie.

Unter dem Titel „Durch den Eisernen Vorhang“ wird das Theaterleben in beiden Deutschlands bis 1990 in nur elf Schwerpunkten gebündelt, eingeleitet von einem Exkurs zum Nachkriegsgeschehen und ausgeleitet von Stichpunkten von einigen Fotografien zum Theater der 90er Jahre. Konzipiert und geleitet hat das Projekt Henning Rischbieter, Gründer der Zeitschrift Theater heute und langjähriger Leiter des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität Berlin. Ein Zeitgenosse, der darlegt, was für ihn nach all den Jahren übrigblieb.Trotzdem liefern die Ausstellung und vor allem der dazugehörige Katalog nicht nur schieres Material. Denn Rischbieter, der schon Ende der 60er Jahre die Position vertrat, daß Theater erst dann politisch ist, wenn die Hoffnung auf eine veränderte Zukunft vermittelt wird, schreibt seine Theatergeschichte selbst als eine parteiliche, formuliert aber zurückhaltend genug, um auch andere Setzungen zuzulassen.

In fünf Gegenüberstellungen werden die Arbeiten meist einzelner Regisseure prototypisch für ihre Zeit vorgestellt. Gustaf Gründgens' apolitischer Klassizismus einerseits und Bertolt Brechts geschichtsbewußtes Theater andererseits. Der „unerbittliche Realismus“ des Sozialisten Fritz Kortner im Westen und die Schwierigkeiten mit dem sozialistischen Realismus am Deutschen Theater im Osten unter Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz. Das ästhetisch-realistische Volkstheater West von Peter Zadek und das kritisch-realistische Volkstheater Ost von Benno Besson. Dann – West-West – das Schaubühnenkollektiv unter Leitung von Peter Stein und die hermetische Arbeit von Rudolf Noelte. Schließlich die Klassikerinszenierungen von Claus Peymann hier und Alexander Lang dort, bevor Heiner Müllers „hochkomplexes Theater des Aufweisens von schmerzhaften Geschichtsbrüchen“ als Einzelfall behandelt wird.

So stromlinienförmig, wie es sich liest, kommt das Ausgestellte nicht daher. Das Material überwuchert die Thesen recht eigenständig und vermittelt sich mal synchron, mal dissonant. Wenig Texte, viele Fotos, Bühnenskizzen, Plakate, Toneinspielungen und Videos – gearbeitet muß werden bei diesem Rundgang, der durch keinen gebauten Bühnenraum, keine Kostüme oder Requisiten vom Wesentlichen ablenkt, das für das nachträglich blickende Auge sowieso nicht sichtbar wäre.

So kommen die Erkenntnisse beim Flanieren manchmal über Eck, gar nicht oder sogar zu früh vorbei, doch das schadet nichts, im Gegenteil. In der Rolle von Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer aus „Draußen vor der Tür“ schauen beispielsweise gleich sieben Darsteller der Hauptfigur Beckmann von den 40er-Jahre-Stellwänden herab, alle mit der gleichen, von Gummibändern gehaltenen runden Kriegsbrille. Dabei ist das Serielle hier noch gar nicht das Thema. Oder man trifft eine zauberhaft junge Johanna von Koczian, die eine hoffnungsvolle Karriere später in „Das bißchen Haushalt“ münden ließ. 1956 spielte sie die Anne Frank im Berliner Schloßpark Theater. Gründgens ist zu sehen, nicht nur im Video als entkräftet lispelnder Philipp II. in Schillers „Don Carlos“, sondern auch 1943 als Soldat, Gewehr über Kopf – auf einem Flugblatt, das Jahre später in Edinburgh verteilt wurde, als der ehemalige NS-Staatstheaterintendant – „send him home“ – zu einem Festival-Gastspiel kam.

Auffallend ist, wie auf den Osttheaterplakaten das Figurative dominiert: der einzelne oder das Symbol. Und die ikonographische Wirksamkeit Heiner Müllers war offenbar schon 1975 so groß, daß das Plakat zur Uraufführung seiner „Schlacht“ durch Manfred Karge und Matthias Langhoff in der Volksbühne gleich dreifach mit seinem Bild versehen ist: ein blasser und ernster Mann mit schütteren Haaren, schwarzgerandeter Brille und schwarzem T-Shirt. Äußerlich hat er sich später kaum verändert. Ganz anders Peter Stein, der heute mit zerfurchtem Altmeistergesicht Millionen von Mark sammelt, um als definitives Repräsentationsprojekt einen Jahrtausend-“Faust“ verwirklichen zu können. 1969 sammelte er gemeinsam mit Wolfgang Neuss nach Aufführungen des „Viet Nam Diskurs“ von Peter Weiss insgesamt 1.850 Mark für den Vietcong. Plötzliches Begreifen dann im Rudolf-Noelte-Séparée. Das also ist gemeint mit „hermetischem Theater“: Die Fotografien der Bühnenräume von Hanna Jordan oder Jürgen Rose in den 60er und 70er Jahren zeigen bewohnbare Welten, die nach allen Seiten weiterzuführen scheinen. Richtige Teppiche, Vorhänge, Kronleuchter und Polsterstühle, zwischen denen die Schauspieler nie wieder hervorkommen müßten, wo sie einfach bleiben könnten bis ans Ende aller Tage, mit Essen versorgt von der Souffleuse. Am Deutschen Theater in Ostberlin hingegen arbeitete der Bühnenbildner Heinrich Kilger mit Projektionen und Fotomontagen, und in den 70ern gab es dort und in der Volksbühne oft riesige leere Flächen als Bühnenräume: nackt ist die Welt – darauf: der Mensch. Apropos nackt. In Grübers Schaubühnen-Inszenierung der „Bakchen“ sieht man im Video Michael König, der unbekleidet auf eine Rolliege geschnallt ist und sagt: „Ich bin nicht Dionysos.“ Im Hintergrund guckt ein Pferd um die Ecke. In der Müller-Nische dazu passend Ulrich Mühe auf einem plakatgroßen Foto aus „Hamlet/Maschine“, 1990, im schwarzen Anzug auf einer Tafel Text ausstreichend ohne hinzuschauen: „Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr.“

Derselbe Ulrich Mühe, der kürzlich als Gerichtsmediziner in einer Fernsehserie war und mit gleichem Gestus dann in Zadeks Inszenierung von Sarah Kanes „Gesäubert“ an den Hamburger Kammerspielen als brutaler Arzt auftrat. Vielleicht spielt er wirklich keine Rolle mehr. Und Zadek, dessen Pop-Inszenierungen im wesentlichen durch Fotos von Wedekinds „Frühlings Erwachen“ dokumentiert sind, auf der Bühne von Wilfried Minks vor dem riesigen Pop-Porträt von Rita Tushingham, Bremen 1965. Mit Judy Winter, jetzt die Diva des Berliner Renaissance Theaters, das in der Nachkriegszeit ein politischer Ort war, inzwischen aber auch keine Rolle mehr spielt. Bruchstücke – Bühnenmaterial hätte so etwas bei Müller geheißen. Stunde Null oder Die Kunst des Servierens bei Marthaler.

„Durch den Eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 – 1990“. Bis 1. August, Akademie der Künste Berlin. Katalog broschiert 58 Mark, gebunden 98 Mark, Propyläen Verlag

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