Kommentar: Von wegen Sozialtante
■ Ingrid Stahmer zeigt Führungsqualitäten
Senator werden ist nicht schwer, Ex zu sein dagegen sehr. Wer, zum Beispiel, redet heute noch von Wolfgang Nagel? 70.000 Wohnungen hat er bauen lassen . Und nun? Wer kennt schon seine Firma Bredero? Und Elmar Pieroth? Der hat wenigstens sein Weingut, und Thomas Krüger hat sein Babyjahr. Was aber hat Ingrid Stahmer?
Die Antwort ist eindeutig: Führungsqualitäten! Ein „Beratungsbüro für Organisations- und Führungsfragen“ will sie nach der Wahl im Oktober eröffnen. Für ein Senatsamt, erklärt sie selbstbewußt, stünde sie deshalb nicht mehr zur Verfügung.
Was, so fragt man sich da unweigerlich, bedeutet das für die Stadt? Wird die neue Große Koalition diesen Verlust überhaupt verschmerzen können?
Ihre Schaffenskraft ist jedenfalls legendär. Kaum hatte sich Stahmer, damals noch Herausforderin von Eberhard Diepgen, mitten im Wahlkampf eine Currywurst-Vergiftung zugezogen, war es ihr gelungen, sämtlichen Streit der Parteien zu schlichten. Senatskollege Jürgen Klemann kündigte an, den Würstchenbuden an den Kragen zu gehen. Stahmer und Diepgen gingen gestärkt aus dem Wahlkampf hervor, Diepgen als Regierender Bürgermeister und Stahmer mit 23,6 Prozent der Stimmen. So ausgleichend können Sozialtanten sein.
Prägend für diese Fähigkeit zur Gelassenheit selbst in stürmischsten Zeiten muß ihre österreichische Herkunft sein. Auch heute noch wandert sie im Urlaub mit ihrem Mann am liebsten in den Bergen. Wo sonst läßt sich zu den Talfahrten in der politischen Tiefebene besser Distanz finden als im Hang zu Höherem? Plattdeutsch, das waren immer die anderen.
Steil war auch ihre politische Karriere. Von der Sozialstadträtin in Charlottenburg bis zur Senatorin hatte sie sich hochgearbeitet, bis sie 1995 ihren größten Coup landete: den Sieg gegen Walter Momper und den zweiten Platz gegen Eberhard Diepgen.
Doch dann kam die Sache mit dem gebrochenen Finger, ein Karriereknick, von dem sie sich lange nicht erholt hat. Nun aber klappt es wieder mit den Fingerzeigen. Ingrid Stahmer, die Führungskraft, ist wieder ganz oben. Von wegen Sozialtante. Uwe Rada
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen