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Zunge in Bauchnabel

■ Als wären Schlaghosen und Glamrock in den Neunzigern noch einmal erfunden worden: Der amerikanische Retro-Rocker Lenny Kravitz vergniedelte seine Hits in der Wuhlheide

In der Straßenbahn, auf dem Weg in die Wuhlheide, fängt es an. Zwei Mädchen rätseln, wo wohl der Backstage-Eingang ist, ob er einfach zu passieren wäre und was man dazu wohl tun müsse, kicher. Das Objekt der Begierde heißt Lenny Kravitz. Seines Zeichens Retro-Rocker, Ex-Mann von Lisa Bonnet und, wenn man den Gazetten Glauben schenken darf, Liebhaber von Vanessa Paradis, Sinead O'Connor und mindestens einem weiteren halben Dutzend aus Kino und Fernsehen bekannter Topzangen.

Ein Drittel des Publikums ist weiblich, also ungefähr dreimal mehr als üblich, und frau trägt nabelfrei oder T-Shirts, auf denen selbstgestickt „Lenny“ steht, oder selbstgemachte Trompetenhosen oder ein rotes Kleid mit Leder-BH drüber. Kurz: Das Publikum wirkt, als hätten Tocotronic-Fans und Bankangestellte die Anziehsachen getauscht. Erstere haben sich feingemacht, letztere wollen mal richtig abrocken gehen und haben die Lederjacke aus dem Schrank gekramt.

Alle sehen also super aus, der Sound ist auch super, und so fällt die schwarze Verhüllung von einem silbrig glänzenden Bühnenaufbau, der Glamrock-Atmosphäre in die Wuhlheide tragen soll, und es rockt los. Lenny Kravitz tobt über die Bühne, schneidet Grimassen, rennt und springt, schmeißt nicht einfach sein Handtuch in die Menge, sondern wirft es einem ganz bestimmten Mädchen zu, die Sonne geht unter, und alle haben Spaß.

Jungs stecken ihre Zunge in den Bauchnabel ihrer Freundin, Mädchen winken in einem fort in Richtung Bühne, und Lenny Kravitz setzt seine Sonnenbrille ab. Der Gitarrist sieht aus, als wäre Slash von Guns'n'Roses als Sohn eines Postbeamten in der französischen Provinz auf die Welt gekommen, die beiden Background-Sänger könnten die kleinen Brüder von Al Green und Isaac Hayes sein, und die Drummerin sieht tatsächlich genauso aus wie in den Videoclips: ein angetäuschter Afro auf dem Kopf und so cool wie das Trockeneis, dessen Nebel sporadisch über die Bühne wabert.

Lenny Kravitz selbst ist von Kopf bis Fuß in einen knallengen schwarzen Anzug mit leichten Siebziger-Anleihen gewandet. Kreisch. Es geht einmal quer durch seine Hits. Von „Mr. Cabdriver“ über „Let love rule“ und „My Mama said“ bis zu „Fly away“. Als die Hits alle sind, ist das Konzert vorbei. Das dauert allerdings zwei Stunden. Was vor allem daran liegt, daß jedes Stück gnadenlos vergniedelt wird: Gitarrensolo, Flöte, Trompete, Schlagzeug, Saxophon, Orgel – jedes Instrument muß mindestens einmal zu seinem Recht kommen. Und das tut den Stücken nur bedingt gut, da Kravitz ja eigentlich der Meister des knallenden Gitarrenriffs ist, das er aus der Musik seiner Vorbilder wie Curtis Mayfield, John Lennon und Sly Stone herausdestilliert hat. Und zuviel Jazzrock knallt eben nicht. Aber sei's drum, das Publikum bejubelt jedes Solo, als werde die Schlaghose neu erfunden.

Die Klamotten reißt sich allerdings niemand vom Leib, weder im Publikum noch auf der Bühne, Lenny Kravitz lüftet nur einmal kurz sein Hemd und kratzt sich am Bauch. Und das reicht dann auch: In der S-Bahn auf dem Weg nach Hause dreht sich das Gespräch auf den Nachbarbänken um die Vor- und Nachteile von Sex auf dem S-Bahn-Boden. Tobias Rapp

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