: Ganz bestimmt nie wieder „Oberschweineöde“
■ In der ehemaligen Industriemetropole Berlin ist die Umgestaltung der alten Gewerbeflächen eine besondere Herausforderung. Technologiezentren gehören ebenso zum Repertoire wie amerikanische Shopping Malls
Verglichen mit den „Hallen am Borsigturm“ in Berlin-Tegel sind die „Potsdamer Platz Arcaden“ eine unspektakuläre Veranstaltung. Während die amerikanische Erlebniswelt einer Shopping Mall am Potsdamer Platz in das Zwangskorsett eines europäisch anmutenden Stadtquartiers gesteckt wurde, herrscht in den ehemaligen Hallen des Maschinenbauunternehmens Borsig Amerika pur. Mitten im Einkaufstrubel bewegen sich etliche Frauen im Aerobic-Rhythmus und in der obersten Etage der Shopping Mall erstreckt sich eine amerikanische Gastronomielandschaft, die ihresgleichen in Berlin sucht. Von der europäischen Industriestadt zur amerikanischen Erlebniswelt – in Tegel ist das nur ein kleiner Sprung.
Anders als London mit seinem Finanzzentrum und Paris mit seinem adminstrativen Apparat verdankt Berlin seinen Aufstieg zur Weltstadt vor allem den Industrialisierungsschüben in den letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts. Namen wie Borsig, Schwartzkopf, AEG, Siemens und Narva standen aber nicht nur für das rasante Anwachsen der Berliner Bevölkerung zur Viermillionenstadt. Die industrielle Revolution prägte auch die städtebauliche Struktur Berlins. Nun, inmitten einer Dienstleistungsgesellschaft mit ihrer oft zitierten Auflösung herkömmlicher Ortsbindungen, nehmen sich die alten Industrieflächen wie Dinosaurier im modernen Stadtgefüge aus. Sie einer neuen, stadtverträglichen Nutzung zuzuführen ist deshalb eine große Aufgabe der Stadtpolitik. In den alten 15 Hektar großen Borsig-Werken in Tegel, in denen mit den Worten des Berliner Landeskonservators Helmut Engel Stadt- und Industriegeschichte miteinander verwachsen sind, wurde der Umbau gleich auf mehreren Ebenen vorgenommen. Neben der 22.000 Quadratmeter großen Shopping Mall, die in drei der ehemaligen Montagehallen untergebracht ist, und einem Multiplex-Kino mit 2.500 Plätzen, besteht das Konversionsprogramm vor allem aus dem neugegründeten Phönix-Gründerzentrum, einem neuen Gewerbepark, sowie 200 neuen Wohnungen, die die städtebauliche Anbindung an die Tegeler Gründerzeitbebauung herstellen soll. Mit diesem Nutzungsmix hat sich der Investor der 800-Millionen-Maßnahme, die Herlitz Falkenhöh AG, auf wirtschaftlich halbwegs sicheres Terrain begeben, der Tegeler Stadtstruktur allerdings einen, so der Architekturkritiker Claus Käpplinger, „autistischen Grundriß“ einverleibt.
Während das Land Berlin mit 400 Hektar an landeseigenen Grundstücken und trotz eines Verlustes von 280.000 industriellen Arbeitsplätzen noch immer eine optimistische Flächensicherungspolitik für produzierendes Gewerbe betreibt, haben sich in den großen Konversionsprojekten der Hauptstadt recht unterschiedliche Nutzungstypen herausgebildet. So soll im Norden des Bezirks Friedrichshain ein alter Schlachthof in einen modernen Dienstleistungs- und Wohnstandort umgewandelt werden. Ein Vorhaben, das allein schon wegen der hervorragenden Einbindung in die Friedrichshainer Stadtstruktur erfolgreich zu sein schien. Doch hohe Grundstücks- und Sanierungskosten, fehlendes Know How bei der Entwicklungsgesellschaft und mangelnde Nachfrage seitens der potentiellen Käufer führten dazu, daß aus dem ambitionierten Vorhaben nun eine Investitionsbrache zu werden droht. Ein Schicksal, das so manche ehemalige Industriefläche in Berlin teilt. Der Grund: Auf den grünen Wiesen Brandenburgs sind die Grundstückspreise billiger und beim Neubau gibt es keine Sanierungskosten. Je mehr sich aber die Umlandstandorte zu neuen Zentren herausbilden, desto größer wird die Gefahr, daß sich periphere Gebiete im Zentrum der Stadt herausbilden.
Einer der größten Industriestandorte liegt im Ostberliner Stadtteil Oberschöneweide. 25.000 Menschen haben hier vor der Wende im Kabelwerk Oberspree gearbeitet und in den Gründerzeitbauten des angrenzenden Quartiers gewohnt. Mittlerweile gibt es dort nur noch 1.500 gewerbliche Arbeitsplätze, die Zahl der Bewohner ist auf 18.000 zurückgegangen. Zu Ostzeiten im Volksmund bereits „Oberschweineöde“ genannt, droht hier einem ganzen Stadtteil der Niedergang. Seit 1995 gehört Oberschöneweide deshalb zu den größten Konversionsprojekten der Berliner Landesentwicklungsgesellschaft BLEG. Auf einem Gelände von 130.000 Quadratmetern lockt die BLEG mit Mieten um 15 Mark pro Quadratmeter vor allem Existenzgründer auf das historische AEG-Gelände. Gleich daneben bietet der private Investor Peter Barg auf dem Gelände des ehemaligen Transformatorenwerkes Quadratmeterpreise von sechs bis 13 Mark. Das Konzept scheint nach langen Anlaufschwierigkeiten nun aufzugehen. Die Flächen beider Anbieter haben sich bis zu 40 Prozent gefüllt und selbst Künstler, sonst in Mitte und Prenzlauer Berg zu Hause, haben hier einen neuen Unterschlupf gefunden. Hinzu kommt noch der Einzug der europäischen Frauenakademie. Ein Stück Optimismus für das Quartier, das sich nunmehr auch in vielen renovierten Fassaden in der Wilhelminenhofstraße ausdrückt.
Es scheint, als erweise sich die industriell geprägte Stadtstruktur in Berlin trotz der sich verändernden Standortkriterien des modernen Dienstleistungsgewerbes als außerordentlich flexibel.
Das hat mit der noch immer mangelnden Zentrumsfunktionen in den zentralen Bezirken und der Kiezorientierung auf die verschiedenen Bezirkszentren zu tun, aber auch mit den bislang in Berlin fehlenden Vergnügungsparks vom Schlage eines Euro Disney in Paris. Vor diesem Hintergrund läßt sich auch eine amerikanische und autistische Stadtlandschaft auf dem Borsig-Gelände in Tegel verkraften.
Eine andere Gefahr beim Umbau der Industriestadt Berlin ist allerdings schon in aller Munde. Die vielfache Konzentration von Einkaufszentren und Einzelhandel in den alten Arealen hat dazu geführt, daß die namentlich in Berlin äußerst kleinteilige Einzelhandelsstruktur und damit auch ein unverkennbares Erbe der europäischen Stadt vor dem Aus steht.
Uwe Rada
Mitten im Einkaufstrubel bewegen sich etliche Frauen im Aerobic-Rhythmus. In den ehemaligen Industriehallen von Borsig herrscht Amerika pur.
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