piwik no script img

AKWs schrecken Ukraine nicht

■ Auch der Super-Gau in Tschernobyl war für die Ukraine kein Grund zum Ausstieg. Neue Reaktoren sollen Tschernobyl ersetzen

Tschernigow (taz) – Mit einem Lächeln öffnet Wiktoria Lasenkowa eine Bierflasche der Marke Taller und schenkt ein. Die technische Leiterin der Brauerei Desna in Tschernigow ist stolz: „Wir verkaufen unsere Getränke in der gesamten Ukraine.“ Und sie spricht gern über steigende Umsätze, sichere Jobs und Investoren aus Belgien. Nur über „die Katastrophe“ mag sie nicht reden. Über den Tag, als der Block 4 des AKWs Tschernobyl außer Kontrolle geriet – nur 40 Kilometer entfernt.

Daß die atomare Verseuchung auch ihr Bier betrifft, glaubt die Technikerin nicht. Wie überhaupt kaum jemand hier anzweifelt, daß es sich im Schatten von Tschernobyl sehr wohl leben läßt. Das AKW hat sich in den Augen vieler Ukrainer zu einem doppelten Symbol entwickelt: Es steht sowohl für Zerstörung als auch für den Aufbau des Landes. Diese Auffassung wird bis nach ganz oben geteilt: Leonid Kutschma, Staatspräsident der Ukraine, hält den Reaktor für unverzichtbar. Der Regierungschef des zweitgrößten Landes in Europa hatte zwar zugesagt, den letzten noch arbeitenden Meiler Block 3 in Tschernobyl bis zum Jahr 2000 vom Netz zu nehmen. Allerdings nur, wenn die gleiche Menge Energie mit Hilfe von Westkrediten an anderer Stelle produziert werden kann. Tschernobyl-3 gilt trotz zweier Brände noch immer als sehr „produktiv“.

Derzeit verfügt die Ukraine über 14 Reaktorblöcke in fünf AKWs. Auch für Tschernobyl kann sich Kutschma nichts als Ersatz vorstellen, als die Fertigstellung zweier weiterer Reaktorblökke. Der Vorschlag des deutschen Umweltministers Jürgen Trittin und der Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen, die rohstoffarme Ukraine nicht mit neuen AKWs dazu zu bringen, Tschernobyl abzuschalten, sondern Gaskraftwerke zu bauen, ist für den ukrainischen Präsidenten indiskutabel: „Gas können wir uns nicht leisten.“ In einem Land, in dem schon seit Monaten weder die Renten, noch die Gehälter für die Staatsbediensteten ausgezahlt werden, könnten den Bürgern keine zusätzlichen Ausgaben zugemutet werden. Kutschmas Fazit: ,,Ohne gleichwertigen Ersatz bleibt Tschernobyl am Netz.“

Doch neue AKWs sind nicht die einzige mögliche Anwort auf die Energieprobleme. ,,Das größte Problem der Ukraine ist die Energiearmut gepaart mit extremer Energieverschwendung“, sagt Ulrich Thießen, Berater der ukrainischen Regierung vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Im Vergleich zu den Nachbarländern sei der Pro-Kopf-Verbrauch ungewöhnlich hoch – höher als in Rußland. Wie zu sozialistischen Zeiten müßten weder Betriebe noch Private für den tatsächlichen Energieverbrauch zahlen.

Aus diesem Dilemma wird die Ukraine allerdings nicht so schnell herauskommen, denn westliche Firmen investieren lieber direkt in Rußland. Gleichzeitig können viele ukrainische Waren nicht in die EU exportiert werden. Leonid Kutschma sieht daher mit Bangen auf die Bemühungen der rot-grünen Koalition, aus den Atomkrediten auszusteigen. Sollte der Westen auf das Abschalten von Tschernobyl pochen und im Gegenzug nur Gaskraftwerke anbieten, droht Kutschma, sei das Tischtuch mit den neuen Nachbarn zerschnitten. Stefan Koch

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen