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Buchstaben reisen einzeln und zu Fuß

Penelope Wehrli hat mit ihrer Kunstaktion „Äther Trommeln Europa“ im Festspielhaus Hellerau die Kommunikationswege Europas auf dem Theater vernetzt. Das Publikum freute sich über gemütliche Diwane und surrende Textnähmaschinen  ■   Von Katrin Bettina Müller

Zweiundsiebzig Stunden im arktischen Schneesturm, bei zwanzig Grad unter Null. Wir stippen das Brot ins heiße Fett der Soljanka und hören den Polarforscher Hans Oerter von seiner „Reise zum äußersten Punkt, von dem aus man das eigene Leben in den Blick fassen kann“ erzählen. Suche man nicht das Alleinsein und die Erfahrung der eigenen Fremdheit bei jeder Reise, fragt er in die Runde der Experten für das Nahe und das Ferne, die Penelope Wehrli ins Festspielhaus Hellerau eingeladen hat. Da schaltet sich zwei Räume weiter die „Klangverwaltung“ ein und spült den Medien- und Kulturwissenschaftlern, Hirnforschern und Philosophen die Antworten vom Munde weg, zerhackt die Worte zu Froschgequake.

Aus Nebengeräuschen, Wortfetzen und elektronischen Signalen komponieren Georg Zeitblom und Boris Daniel Hegenbart bald ein Vibrieren, Rauschen und Klanggeflimmer, daß man Sturm und Sterne der arktischen Nacht selbst zu hören vermeint. Wir lutschen das Fett von den Fingern und strecken uns auf den fürsorglich aufgestellten Diwanen aus. Es ist Mitternacht.

Hören, lesen, riechen, schmekken, schlafen: Alle Sinne wurden versorgt in der „romantischen Versuchsanordnung“, die Penelope Wehrli, Performance-Künstlerin aus der Schweiz und bis 1998 Bühnenbildnerin bei Johann Kresnik an der Berliner Volksbühne, im Festspielhaus Hellerau aufgebaut hatte. Dem Reisen, der Nacht und dem Klang der Ferne galt ihre neunstündige Performance „Äther Trommeln Europa“ zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen. Karl May, der im nur wenige Kilometer entfernten Radebeul seine Abenteuer mit den Indianern Nordamerikas oder den Nomadenvölkern der Wüste imaginiert hat, war ein Raum gewidmet, der mit Dias, Bücherstapeln und Rauchwaren zum Schmökern einlud; Jules Verne, in Filmausschnitten zitiert, war der zweite Gewährsmann für die Reisen im Kopf und auf dem Papier.

„Wo bist du, Juliane?“ Verbunden mit den Gästen vor Ort waren via Mobiltelefon die „Fahrer“, Realreisende durch den Raum, wie Stefan, der das Ferienhaus seiner Kindheit wieder aufsuchen wollte, oder Wolfgang, der sich aus einem Boot 60 Seemeilen vor Washington meldete. Allein der nächtliche Talk verstrickte sich bald in Selbstreflektionen, und die Abteilung Wort schleppte schwer an ihrer Berufung als kritische Instanz.

Mit mehr Virtuosität bewegten sich da Claudia Rannow und Kerstin Häusermann in ihrer „Geruchsküche“ und jagten aromatische Schwaden von Fisch und Fenchel, Knoblauch und Anis durch die Räume.

Wie noch fast jede Kunstaktion im Festspielhaus Hellerau wurde auch „Äther Trommeln Europa“ zu einem Trip in die Geschichte des Ortes. Die Wandbilder über den Köpfen der Talkrunde zeigten die Route der Roten Armee, die das Haus von 1945 bis 1992 nutzte. Seitdem kehrt die Kultur jeden Sommer in die hohen Hallen zurück, die in einem eigenartigen Zustand zwischen Verfall und Wiederherstellung stehengeblieben sind. Anfang des Jahrhunderts wurde Hellerau mit einer kurzen Blüte der Lebensreformbewegung, der rythmischen Gymnastik und des expressiven Tanzes als Geburtsort des Neuen berühmt. Auch Penelope Wehrlis Inszenierung stand im Kontext des historischen Kapitals von Experiment und der gattungsüberschreitenden Kommunikation. Der alte Traum vom Gesamtkunstwerk lebt mit den neuen Kommunikationstechnologien wieder auf. Eröffnet wurde mit der Performance die Sommerakademie zum Thema „Theater und Neue Medien“.

Allein die Meister der Kabel und der Vernetzung, die Computerarbeitsplätze und Leinwände aufgebaut hatten für eine Beteiligung des Publikums vor Ort und an den Bildschirmen daheim, bekamen nicht viel zu tun im Festspielhaus. „Technik verstellt den Zugang zur Welt und wir reisen, um die unmittelbare Begegnung wiederzufinden“, lautete eine der Thesen des Abends. Parallel zu den Tastaturen, Monitoren und Mischpulten in den Räumen der Techniker hatte Penelope Wehrli einen Tisch für fünf Näherinnen aufgestellt, die mit leisem Surren ihre Texte über das Reisen in Stoffbahnen stickten. Der Beschleunigung der Vernetzung hielten sie die Verlangsamung der Textproduktion entgegen. Da reisten die Buchstaben noch einzeln und zu Fuß, statt sich in Massen über die Datenautobahnen zu ergießen. So schien der große Medienapparat, der Hellerau mit Reisenden in ganz Europa verbinden sollte, am Ende mehr seine Überflüssigkeit im Theater zu beweisen. Neue Bedürfnisse der Interaktion wurden jedenfalls nicht befriedigt.

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