: John Boy ohne Brett vorm Kopf
■ A wie AKW, Anarchie oder AC/DC: Der 30jährige Künstler René Lück hat mit Hobel und Säge eine Geschichte der 78er erzählt
„John Boy, kannst du dir vorstellen, daß irgendwann und irgendwo Menschen eine andere Musik hören als den Square Dance?“ – „Mary-Anne, woher soll ich das denn wissen?“ – „Ich weiß nicht. Das Fest heute war so schön, und du gehst ja jetzt in die große Stadt, und da dachte ich, da müssen solche Tanzfeste bestimmt noch viel größer, anders und wunderbarer sein.“ – „Schlaf jetzt, Mary-Anne, darüber werde ich dir schreiben, wenn ich dort bin.“
So oder so ähnlich war das am Vorabend, als John Boy die Siedlerfarm der Waltons verließ, das Licht im zweistöckigen Haus erlosch und wieder eine Folge der Familiensoap im Spätnachmittagsprogramm gelaufen war.
Das Wort „Soap“ und die „Lindenstraße“ waren Ende der 70er Jahre noch nicht in Sicht, aber die Hafenstraße in Hamburg war irgendwie schon im Gespräch. Allerdings interessierten sich die Thirtysomethings von heute damals noch für Nutellatoastbrot, „Enterprise“ und die Alice-Cooper- oder Pink-Floyd-Platten der älteren Geschwister. Kaum besser an die 78er erinnern könnte einen derzeit eine Ausstellung des 30jährigen Kunststudenten René Lück in der Galerie Koch und Kesslau. Er hat gesägt und gehobelt an seiner jugendlichen Vergangenheit, bis ihm das Brett vorm Kopf abgefallen ist. Aus dem Sperrholz hat er, mal grob, mal fein geschliffen voneinander getrennt, was Ende der 70er, Anfang der 80er noch keinen Widerspruch erzeugte.
Da sind als erstes die aus Dachlatten zusammengeleimten Grenzen der alten Bundesrepublik samt ihrer Insel West-Berlin. Zu Füßen der hölzernen Deutschlandkarte steht verrammelt und vernagelt aus Lattenbruchleisten ein ehemaliges AKW-Hüttendorf in der Größe einer besseren Puppenstube. Auf dem Aussichts- und Wachturm hängt schlapp ein Polyamidstofflappen, mit einem großen „A“ daraufgemalt.
Es könnte beinahe auch die Farm der Waltons sein, die hier in Lücks erster Einzelausstellung leider fehlt. So bleibt neben dem akkurat ausgesägten AC/DC-Logo und einem ordentlichen Nachbau des besetzten Hauses der Hamburger Hafenstraße eher der Eindruck zurück: Da hat einer schon früh gewußt, in welchen Wind er seine Fahne hängen muß. „Zählt nicht uns, sondern eure Tage“ ist da auf der ansonsten sehr ordentlich gezimmerten Hafenstraße zu lesen. Doch das Wissen um Lücks Waltons-Vergangenheit sowie ein Blick in seine Plattensammlung enttarnt auch ihn als ehemals umherirrenden Teenager auf der Suche nach Vorbildern, Wertmaßstäben, Inhalten und Sinn. In einer extra aus Jeansresten genähten Plattentasche für Vinylformate tummeln sich da neben AC/DC, Heavy Metal und Punk auch „The Best of Cat Stevens“ und Simon & Garfunkel. Und das Weiße Album der Beatles findet darin genauso Platz wie Pink Floyd und Bruce Springsteen.
Das ist wie mit dem „A“, das mal für „AKW – nein danke!“ oder „Anarchie“ stehen mag. Heute könnte es auch Aids bedeuten: Nur wenige Meter entfernt von Lücks Fahne fordert das Bundesgesundheitsministerium „Komm gut rein in 2000“, die Nullen durch drei Kondome ersetzt, und „Gib Aids keine Chance“. Aids war damals noch kein Thema, aber auch John Boy wußte ja nicht, was ihn in der großen weiten Welt erwartet.
Petra Welzel ‚/B‘ Galerie Koch und Kesslau, Weinbergsweg 3, bis 10. 7., Do. bis Sa. 16–20 Uhr
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