■ Schriftsteller und Intellektuelle vom Balkan trafen sich in Berlin zu Diskussion und Gespräch. Ihr Thema: Woher kommen Haß und Vernichtungswille, die in den letzten zehn Jahren verhängnisvoll die Geschichte der Region prägten? Können sie überwunden werden?: Die Manie des Mythos
Daß Slobodan Miloševic auf keinen Fall zu den good guys gehört, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Bleiben noch ein paar Fragen: Woher stammt der Haß, der Vernichtungswille? Gibt es Heilmittel? Besteht überhaupt eine Chance, daß künftig Kosovaren und Serben friedlich miteinander auskommen werden? Es geht jetzt im Kosovo um praktische Politik, aber auch um das Beharrungsvermögen von Mentalitäten und Mythen. Es geht um Fragen von Schuld und Verantwortung. Ein neuer Karl Jaspers wird dringend gesucht, hat sich aber noch nicht gemeldet ... Das haben die Heinrich-Böll-Stiftung und das Haus der Kulturen der Welt gut verstanden, als sie am vergangenen Wochenende zu einer internationalen Kosovo-Konferenz nach Berlin einluden. An dieser Stelle soll übers Grundsätzliche berichtet werden, über das Thema „ ,Nation‘ und ,Volk‘ – die Macht von Mythenbildungen“.
Das war keine Versammlung mehr oder weniger autistisch agierender Berühmtheiten. Unter der Leitung des Balkan-Korrespondenten der FAZ, Matthias Rüb, ging es kontrovers zur Sache. Den Anfang machte die Schriftstellerin Herta Müller, die es aus dem rumänischen Temesvar nach Berlin verschlagen hat. Für Herta Müller ist der heute in Ost- bzw. Südosteuropa grassierende Nationalismus „eine Verlängerung der Feindbilder der kommunistischen Diktatur“. Denn der reale Sozialismus war nur imstande, eine dörfliche, prüde und brachiale Lebensvorstellung hervorzubringen. Der Grund: die Primitivität der Partei- und Staatselite, die für die Verallgemeinerung ihrer eigenen Mentalität sorgte, und die permanente Mißwirtschaft und Armut, die nur die Flucht in die glorreiche Vergangenheit bzw. die lichte Zukunft übrigließ. Müller sah die gleiche Ausgrenzung, die gleichen Stereotypen, mit denen die Rumänen den Roma begegneten, auch im Verhältnis der Serben zu den Albanern am Werk.
Für Ismail Kadaré, den großen albanischen Romancier und einstigen Lieblingsdichter des Tyrannen Enver Hoxha, liegen die Ursachen des Hasses der Serben auf die Albaner weit, weit zurück in der balkanischen Geschichte. Kadaré las den Schluß einer Novelle, in der der auf dem Amselfeld gefallene osmanische Sultan Murad klagt, daß nur seine Knochen in die Residenzstadt Bursa verbracht worden, sein Blut hingegen auf dem Amselfeld verblieben sei. Seinen Text interpretierend und an die Genugtuung Murads angesichts des Kampfs der Serben gegen die Albaner anknüpfend, demonstrierte Kadaré die Wirkung des Geschichtsmythos von der Schlacht auf dem Amselfeld. Im Mythos hätten die Albaner auf der Seite der Türken gestanden, in Wirklichkeit hätten sie gemeinsam gegen das osmanische Heer gekämpft. Resistenz gegenüber den Tatsachen der Geschichte zeichnete bis heute das serbische Denken aus. Gegen Mythomanie helfe nur die Wahrheit. Und die zeige in den letzten hundert Jahren eine stete Mordbereitschaft der Serben. In Serbien herrsche eine „schwarze“ Kultur des Verbrechens. Mit ihr kann es keine Koexistenz geben, sie muß ausgerottet werden.
Aber wer soll sich dieser Aufgabe unterziehen? Drinka Gojkovic, demokratische Oppositionelle aus Belgrad, bestritt die Existenz eines geballten, traditionellen Haß-Potentials. Die emphatische, die triumphierende Irrationalität des „Kosovo ist das teuerste serbische Wort“ wurde dem Volk von einer politischen Clique aufgedrückt. Intellektueller Widerstand hiergegen muß marginal bleiben, solange Miloševic herrscht. Nicht Intellektuelle, sondern ein erneuerter, demokratischer politischer Wille kann eine Wende zum Besseren bringen. Bedarf es der großen symbolischen Gesten wie des Kniefalls von Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghetto-Aufstands? Soll sie, Drinka Gojkovic, sich bei den Albanern für die Untaten ihres Volkes entschuldigen? Gojkovic bestand auf der Entwicklung neuer politischer Formen des Zusammenlebens. Nur durch sie könne Zivilität in den kleinen Netzen wiederhergestellt werden, in den Unis beispielsweise, wo es früher, an der Uni Priština, Studenten gab, die albanisch lernten, um den kosovarischen Kommilitonen „mit Achtung begegnen zu können“.
Der kroatische Publizist und heftige Tudjman-Gegner Nenad Popovic hielt den ganzen Nationalismus im ehemaligen Jugoslawien für geborgt, für die Bevölkerung mittels westlicher Kredite erkauft. Der Ruin des Staatshaushalts in Kroatien und anderswo werde erweisen, wie stark die Bindungskraft nationalistischer Ideologien wirklich sei. Allerdings gelte es festzuhalten, daß Opferideologie, Selbstmitleid und der reale Unwille zum Neuanfang dieser Ernüchterung entgegenstünden.
Vor allem Drinka Gojkovic' Sicht wurde von Kadaré wie von Müller heftig kritisiert. Ein weiteres Mal wurde das Schweigen der demokratischen serbischen Oppositionellen zum Kosovo an den Pranger gestellt. Kadaré sprach von Pseudo-Oppositionellen im Dienst von Miloševic, Müller von der Notwendigkeit, daß ein künftiger Druck auf den Startknopf der Glotze in Serbien die Wahrheit über die Verbrechen an den Tag bringen müsse. Der Ruf nach „reeducation“ unterblieb, aber der Wunsch nach ihr war bei Kadaré wie bei Müller mit den Händen zu greifen.
Neben den „Rächern“ waren auch leisere Stimmen zu hören. Wie die des albanischen Priesters Bashkim Shehu, der an die Stelle der Frage „Wie konntet ihr uns das antun“ lieber die Frage setzen würde: „Was habe ich getan?“ Oder die des montenegrinischen Autors Branco Sbutega, der angesichts so vieler rascher Urteile in-, vor allem aber ausländischer Freunde zum jugoslawischen Verhängnis feststellte: „Ihr wißt fast alles, aber ihr versteht fast nichts.“ Christian Semler, Berlin
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