: Entgangener Lohn oder erlittene Angst
Heute tagt in Washington die Konferenz zur Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter. Sie wird sich mit einem neuen Vorschlag zur Rangfolge der Opfergruppen beschäftigen. Hombach-Nachfolge ungeklärt ■ Von Christian Semler
Heute trifft sich in Washington ein weiteres Mal die Runde der Experten, die noch offene Fragen der Entschädigung von Zwangsarbeitern während des Dritten Reiches beraten soll. Aber der amerikanische Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat hat als Moderator sein deutsches Pendant eingebüßt. Bodo Hombach ist in Sachen Balkan-Wiederaufbau unterwegs, sein endgültiger Nachfolger ist noch nicht benannt.
Dieter Kastrupp, unter Genscher Chefdenker des Auswärtigen Amtes und jetzt Botschafter bei den Vereinten Nationen, wird es nicht sein, obwohl seine Ernennung von einem „gewöhnlich wohlunterrichteten“ Nachrichtenmagazin bereits bekannt gegeben worden war. Die deutsche Delegation wird vom Leiter der Rechtsabteilung des AA, Westdickenberg, geführt werden. Davon wußte allerdings gestern das Ministerium noch nichts.
Was die inhaltlichen Probleme angeht, so hat ein internationaler Historiker-Workshop, der letztes Wochenende auf Einladung des Historikers und Kanzler-Beraters Lutz Niethammer in Buchenwald tagte, weitere Klärung gebracht. Wie Niethammer der taz mitteilte, befaßte sich der Workshop im wesentlichen mit der Kategorisierung der Opfergruppen. Die Wissenschaftler gelangten zu dem Vorschlag, zwei Dringlichkeitskategorien einzuführen: Zu den Schwerstgeschädigten, die auch als erste entschädigt werden sollen, gehören Zwangsarbeiter, die als KZ-Häftlinge, als Ghetto-Insassen, als Gefangene oder als Angehörige eines Arbeitserziehungslagers schuften mußten. Der zweiten Kategorie sollen Zwangsarbeiter aus den von Deutschen besetzten Gebieten Osteuropas angehören.
Diese Kategorisierung verändert die Regelungen, die von der Stiftungsinitiative deutsche Wirtschaft vor kurzem in Berlin vorgestellt worden waren. Denn dort war der Kreis der Anspruchsberechtigten auf diejenigen Zwangsarbeiter eingeengt worden, die „als KZ-Häftlinge oder unter Haft-, Ghetto oder ähnlichen Lagerbedingungen in deutschen Unternehmen eingesetzt waren“. Niethammer stellte klar, daß auch „gewöhnliche“ Zwangsarbeiter aus dem Osten massiver Diskriminierung und terroristischer Behandlung seitens der SS und Polizei ausgesetzt gewesen waren. Deshalb könne die Lagerhaft hinter Stacheldraht kein trennendes Kriterium sein.
Auch die von der Industriestiftung vorgesehene Mindestdauer von 6 Monaten Zwangsarbeit in einem Unternehmen der privaten Wirtschaft war vom Workshop in Buchenwald verworfen worden, schon wegen der hohen Fluktuation. Für Niethammer ist klar, daß die Zahlungen aus dem Industriefonds keine Kompensation für vorenthaltenen Lohn darstellen, sondern sich nach der Schwere der rassistischen Diskriminierung richten sollen.
Nach wie vor wird von den Regierungen wie von den Opferverbänden Osteuropas das gegenwärtige Rentenniveau in den einzelnen Ländern als Bemessungsgrundlage abgelehnt. Tatsächlich zeichnet sich die ökonomische Situation gerade in den Nachfolgestaaten der SU dadurch aus, daß die Rentenhöhe erstens extrem niedrig und zweitens in keiner Weise der Preisentwicklung angepaßt ist, mithin die Berechnung nach dem Rentenniveau eine Zwei-Klassen-Entschädigung zwischen Ost und West aufrichtet. Für dieses Problem ist keine Lösung in Sicht.
Zentraler Knackpunkt der Washingtoner Verhandlungen ist aber nach wie vor die „Rechtssicherheit“ für die deutschen Unternehmen, sprich: der Schutz davor, sowohl für die Stiftung als auch bei nachfolgenden Privatklagen zahlen zu müssen. Wie kann ein Vergleich aussehen? Geht das im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichsverfahrens? Das ist den deutschen Unternehmen zu unsicher. Oder kann der Vergleich staatlich abgesichert werden? Das wird die amerikanische Regierung nicht machen.
Rechtssicherheit kostet Zeit, aber die Lebenszeit der Zwangsarbeiter verrinnt. Auch für die, die in der Landwirtschaft und bei öffentlichen Einrichtungen beschäftigt waren. Für sie soll eine Bundesstiftung eingerichtet werden – aber erst, wenn die Industriestiftung unter Dach und Fach ist. Bedenken wir: 46 Prozent aller polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter waren in der Landwirtschaft eingesetzt. Für die größte (und überwiegend weibliche) Opfergruppe ist noch keinerlei Land in Sicht.
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