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Das Milosevic-Regime will Zeit gewinnen

■ Noch ist unklar, wohin die Reise geht in Serbien. Es verdichten sich jedoch die Hinweise, daß Milosevic mit friedlichen Mitteln überleben will. Demonstrationen werden genehmigt

Es ist nicht nur etwas faul im Staate Serbien – inzwischen bewegt sich sogar richtig was. Immer öfter finden allabendlich in verschiedenen Städten Serbiens Kundgebungen gegen das Miloševic-Regime statt. Fraglich ist nur, wie die Bewegung ausgehen wird: wie in der Ex-DDR, der ehemaligen Tschechoslowakei? Oder eher wie in Indonesien oder Rumänien? Wird Miloševic schießen lassen, wie in China? Niemand kennt die Antwort.

In Belgrad häufen sich die Nachrichten. Gleichzeitig kursieren unglaubliche Gerüchte. Die Regierung Serbiens wollte gestern im Eilverfahren ein neues Gesetz über die lokale Selbstverwaltung verabschieden lassen. Aber obwohl es eine Mehrheit mit der „Radikalen Partei“ des Vojslav Šešelj gegeben hätte, zog sie ihren Vorschlag auf Wunsch der Opposition zurück. Diese hatte befürchtet, daß Belgrad mit Hilfe dieses Gesetzes vorgezogene Kommunalwahlen habe durchsetzen wollen. Damit hätte ein „Patriotischer Block“, bestehend aus Miloševic' SPS, der „Jugoslawischen Vereinigten Linken“ (JUL) von Miloševic' Ehefrau Mirjana Markovic sowie den Radikalen, die Macht in den Städten zurückgewonnen, die 1996/97 von der Opposition erobert wurde.

Ein weiteres Indiz für die Bemühungen um eine friedliche Lösung in Serbien bildeten die Gespräche zwischen den Regierungsparteien Montenegros und Serbiens im Bundesparlament. Sie sind bislang freundlich verlaufen. Man einigte sich darauf, daß es Probleme auf der Ebene der Föderation gebe und daß man weiterreden wolle.

Beide Seiten wollten Zeit gewinnen. Solange die Demonstrationen in den Städten Serbiens dauern und ihr Ausgang nicht abzusehen ist, will man sich nicht festlegen. Unruhen in Montenegro sind nicht zu erwarten.

Demonstrationen werden seit neuestem nicht nur toleriert, sondern offiziell genehmigt. Die Rentner der Hauptstadt, die für gestern eine Protestkundgebung im Zentrum Belgrads angesagt hatten, mit der sie das Regime auf ihre dramatische Lage aufmerksam machen wollten, erhielten offiziell eine Genehmigung der Polizei. Auch das „Bündnis für Veränderungen“, das ebenfalls für Donnerstag abend zu einer großen Kundgebung in der Industriestadt Kragujevac eingeladen hatte, erhielt eine formale Erlaubnis der Polizei. Bisher waren die Demonstrationen in den Städten Serbiens zwar nicht mit Gewaltanwendung der Ordnungskräfte verhindert, aber noch nie offiziell genehmigt worden.

In Pancevo nahe Belgrad, wo – wie in vielen anderen Städten – auf offener Straße Unterschriften unter Petitionen gesammelt werden, die Slobodan Miloševic zum Rücktritt aufrufen, bemerkte man einige Polizisten in Uniform, die sich auf die Listen eintrugen.

Vuk Draškovic, der Vorsitzende der „Serbischen Erneuerungsbewegung“ (SPO), der bisher am liebsten in der Opposition und der Regierung gleichzeitig gewesen wäre – er war einige Zeit Vizepremier der Bundesregierung –, äußerte sich jetzt unzweideutig: Sein Gegner sei das Regime, sagte er, anderen Oppositionellen wünsche er alles Gute, bei Wahlen wolle er allerdings mit seiner Partei eigenständig antreten, über Koalitionen könne man danach reden.

Draškovic ist gestern nach Athen geflogen, um mit Außenminister Jorgos Papandreou über eine friedliche Lösung in Serbien zu reden. Für heute hat sich ein anderer Führer der serbischen Opposition, Zoran Djindjic, nach Athen eingeladen und hofft ebenfalls mit dem Chef der griechischen Diplomatie sprechen zu können.

In Belgrad erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand, über Athen suche man einen Kompromiß zwischen Regime und Opposition zu erzielen, wie die Krise friedlich, zumindest ohne Bürgerkrieg, gelöst werden könne. Wenn Djindjic zum „Marsch auf Belgrad“ aufruft, was an Mussolinis „Marsch auf Rom“ erinnert, bekommen es viele Serben mit der Angst zu tun. Da fragt man sich auch, ob Miloševic' Partei, die SPS, ihren Führer absetzen könnte, wie der Große Faschistische Rat Mussolini mitten im Weltkrieg. Eine jede einzelne dieser Meldungen mag unbedeutend oder womöglich sogar falsch sein, gebündelt beschreiben sie eine explosive Situation. Ivan Ivanji

In Pancevo, keine 20 Kilometer vor Belgrad, unterschrieben Polizisten eine Petition, die den Präsidenten Milosevic zum Rücktritt auffordert

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