■ Umzugskiste: Es lebe das Etikett!
Herr K. hat ein grünes Etikett auf seinen Schreibtischstuhl geklebt. Er befolgt die Anweisungen der Umzugsliste. Grün für Unter den Linden 71. Dort wird Herr K. ab Mitte Juli sein Büro haben. Sein Schreibtisch bekommt kein Etikett, der bleibt in Bonn. Für die Beamten, die künftig in Bonn an dem Tisch sitzen sollen. Schade eigentlich. Aber Herr K. ist CDU-Bundestagsabgeordneter. Er hält sich an die Liste.
Irgendwo in Bonn steht ein Schreibtisch, der ein grünes Etikett kriegen soll: Unter den Linden 71. Das findet der Abgeordnete Herr B. nicht gut. Er will seinen Tisch gerne behalten, er hängt an ihm. Deshalb klebt er ein gelbes Etikett drauf: Unter den Linden 50. Eine Woche später nimmt er ihn in Berlin wieder in Empfang.
Herr K. sitzt inzwischen auf seinem Bürostühlchen im neuen Büro Unter den Linden 71. Man könnte vielleicht einen Stehempfang geben, überlegt er. Oder zum Tanzen einladen. Die Aussicht von seinem Büro ist großartig. Und er hat viel Platz. Nur eine kleine Kommode steht an der Wand. Wo bleiben die Grüne-Etiketten-Möbel?
Herr K. ist klug. Er verschwindet für drei Wochen in den Urlaub. Zum Glück hat er einen findigen Referenten. Ein Blick auf den Flur: zwei Schreibtische, ein Computertisch, ein Sofa ohne Rückenlehne. Wem gehören die? Ein Anruf bei der Umzugs-Hotline: „Greifen Sie zu! Was übrigbleibt, steht zur freien Verfügung.“ Den Ratschlag beherzigt der Referent gern. Ein neuer Schreibtisch für seinen Chef. Ein Computertisch ist auch nicht schlecht. Macht sich besser, wenn der nicht funktionstüchtige PC wenigstens auf dem passenden Möbelstück steht.
Bis Herr K. zurückkommt, wird sein Referent auf dem Flurbasar Unter den Linden alles besorgt haben. Vielleicht sogar Schränke für Hängeordner. Mangelware wie in der sozialistischen Planwirtschaft. Pech, wer zu spät kommt – im ehemaligen DDR-Außenhandelsministerium.
Der große Umzug von Bonn nach Berlin: Mit bewundernswerter Präzision hat der Bundestag seit fast zwei Jahren dieses Ereignis geplant: 40.000 Kartons, 30.000 Kubikmeter Möbel, 5.299 Personen, zehn Millionen Mark Gesamtkosten. Alles vom Computer berechnet.
Doch dann kam Herr B. mit seinem gelben Etikett. Auf dem Grüne-Etikett-Möbel. Der Computer bricht zusammen. Mit so gewitzten Abgeordneten konnte niemand rechnen.
Jutta Wagemann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen