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Jelzin: Gut gemacht. Sie sind gefeuert.

■  Der russische Präsident entlässt völlig überraschend Ministerpräsident Sergej Stepaschin. Zum Nachfolger macht er Geheimdienstchef Wladimir Putin, den er auch ins Rennen um die Kreml-Erbschaft schickt

Moskau (dpa/rtr/AP/taz) – Ein historisches Verdienst ist Sergej Stepaschin sicher: Von den bisher vier unter der Herrschaft von Russlands Präsident Boris Jelzin verschlissenen Regierungschefs ist er derjenige mit der kürzesten Amtszeit: Gestern morgen und damit nur knapp drei Monate nach Amtsantritt erhielt der völlig entgeisterte Stepaschin von dem senilen Staatschef ohne Angabe von Gründen das Entlassungsschreiben. „Ich besuchte den Präsidenten und er unterzeichnete einen Erlass über meinen Rücktritt. Er dankte mir für gute Arbeit – und feuerte mich“, fasste Stepaschin seine Kurzaudienz bei Jelzin zusammen, dem er von seiner Kurzreise in den krisengeschüttelten Nordkaukasus hatte berichten wollen.

Zum Erben des glücklosen und abgehalfterten Dreimonatsmannes fürs Grobe ernannte Jelzin Wladimir Putin, bisher Chef des Geheimdienstes FSB und Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates. In einer Fernsehansprache machte Jelzin anschließend klar, dass er mit Putin noch Grosses im Sinn habe. Jelzin schlug den Deutschland-erfahrenen Ex-KGB-Spion als seinen Nachfolger im Präsidentenamt vor. Er vertraue Putin. „Und ich will, dass die Wähler im nächsten Juli ihm auch ihr Vertrauen schenken werden“, sagte Jelzin in Anspielung auf die kommenden Präsidentenwahlen. „Er wird in der Lage sein, jene Kräfte zu bündeln, die das große Russland erneuern und in das 21. Jahrhundert führen werden.“

Jelzin forderte das Abgeordnetenhaus auf, Putins Ernennung zuzustimmen. Die Nachrichtenagentur Interfax meldete, die Duma werde voraussichtlich am Freitag zusammentreten. Gleichzeitig versicherte Jelzin, dass die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wie geplant stattfinden würden. Er legte als Termin für die Dumawahlen den 19. Dezember fest.

Wladimir Putin erklärte nach einem Treffen mit Stepaschin, er plane keine größeren Veränderungen im Kabinett. Zudem wolle er diejenigen im Amt belassen, die derzeit für die russische Finanzpolitik zuständig seien. Russland hatte erst vor zwei Wochen erstmals seit dem Ausbruch der Finanzkrise wieder einen Milliardenkredit vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank bekommen. Putin kündigte außerdem seine Kandidatur für das Präsidentenamt an.

In den von Jelzins Eskapaden ohnehin gebeutetelten politischen Kreisen Moskaus stiftete der neue Überraschungscoup zunächst Verwirrung. Der frühere Stellvertretende Ministerpräsident Boris Nemzow sagte: „Es ist schwierig, Wahnsinn zu erklären. Das Volk ist es leid, einem kranken Führer zuzusehen, der nicht fähig ist, sein Amt auszuüben.“

Nach Stepaschins Rücktritt brach der Rubelkurs ein. Der Dollarkurs stieg fünf Minuten nach der Nachricht von 24,9 auf 25,4 Rubel. Die Zentralbank intervenierte und stabilisierte den Dollar zunächst bei 25,3 Rubel, wie ITAR-TASS meldete. Die Agentur zitierte einen Devisenhändler mit den Worten, am Finanzmarkt herrsche Panik.

In russischen Medien wurde spekuliert, dass Kreise um den Präsidenten auf die Entlassung Stepaschins gedrungen hätten, um ihren eigenen Kandidaten in das Amt zu heben. Die Bestätigung der fristgerechten Parlaments- und Präsidentenwahlen wurde als Versuch aufgefasst, Mutmaßungen von Jelzins Gegnern zu entkräften, der Kreml suche nach Wegen, Jelzin eine verfassungswidrige dritte Amtszeit zu ermöglichen.

Die Entlassung Stepaschins löste nicht nur in Deutschland Überraschung aus. Regierungssprecherin Charima Reinhardt sagte, sie gehe aber davon aus, dass Russland den Weg demokratischer Reformen weiterverfolgen werde. Die USA hoffen, dass der strategische Dialog mit Russland nicht ins Stocken geraten werde. Regierungsbeamte äußerten die Erwartung, dass es auch mit Wladimir Putin zu den vereinbarten Gesprächen über einen weiteren Abbau der atomaren Langstreckenwaffen kommen werde. bo

Tagesthema Seite 3

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