: Vollbeschäftigung für Kassen
■ Diverse Feste sorgten gestern für offene Geschäfte in der Stadt. Hunderttausende folgten dem Ruf von Kaufhof am Alex und Ostbahnhof, den Arkaden am Potsdamer Platz und Karstadt in Tegel
Der Kaufhof rief, und die Käufer kamen in Scharen. Wie schon vor zwei Wochen, als die Senatsregelung, nach der am Sonntag nur Touristik-Artikel verkauft werden dürfen, mit „Berlin Souvenir“-Aufklebern umschifft wurde, ging auch gestern die Rechnung auf. Dank des Brunnenfestes – der schäbige „Brunnen der Freundschaft“ wurde 30 – hatten Ostberlins größtes Kaufhaus, Saturn und weitere Läden eine Sondergenehmigung bekommen. Dass das von den Händlern organisierte Fest nur ein Vorwand war, um das gesamte Sortiment anzubieten, war angesichts der Ramschbuden schnell klar: Da gab es Bratwürste von einem halben Meter Länge, im Grilldunst wurden BHs in Sondergrößen angeboten, auf der Musikbühne fragte ein Clown vor einer Weltkarte die Kinder, ob sie wüssten, wo Russland liegt.
Leichter als Russland auf der Karte war der Eingang zum Kaufhof zu finden. Der war dort, wo es sich staute. Bereits eine halbe Stunde vor Öffnung um 12 Uhr standen die ersten vor der Tür. „Ich bin aus Langeweile hier“, sagte eine 62-jährige Frau aus Friedrichshain. Außerdem sei es besser, sonntags in der Innenstadt einzukaufen als montags „auf der Wiese“. Während die Rolltreppen alle Mühe hatten, die Massen zu transportieren, guckte eine Angestellte am Infopunkt gar nicht glücklich aus der Wäsche. „Man muss auch für Muttis mit Kindern sorgen“, klagte die 33-Jährige, die jeden Tag aus Brandenburg nach Berlin zur Arbeit fährt. Weil sie schon am Samstag arbeiten musste, hat sie ihren 5-jährigen Sohn seit Freitag nicht mehr gesehen. Während viele ihrer Kolleginnen noch vor zwei Wochen bereitwillig über ihre Lust, am Sonntag zu arbeiten, Auskunft gaben, war gestern Schweigen angesagt. Mit grimmigem Gesichtsausdruck hieß es stets: „Kein Kommentar.“ Dafür redete Kaufhof-Chef Günter Biere, der wegen illegaler Öffnung vor zwei Wochen mit einem Bußgeld belegt wurde, um so mehr. Der gestrige Andrang stelle den Besucherstrom der letzten Sonntagsöffnung „in den Schatten“, jubelte er. Vor zwei Wochen kamen 50.000 Menschen in den Kaufhof. „Feste sind keine Strategie auf Dauer“, sagte er, „doch wenn es keine andere Möglichkeit gibt, nutzen wir die.“ Vorher wolle er aber „das Gespräch mit Verantwortlichen im Senat“ suchen.
Um demnächst bei solchen Spitzentreffen dabei zu sein, präsentierte sich die FDP mit einem riesigen blau-gelben Ball, der den Wählern suggeriert: „Sie sind am Ball!“ Rolf-Peter Lange, Landesvorsitzender und Spitzenkandidat für die Abgeordnetenhauswahl, der sich vor zwei Wochen noch ins Kaufhofinnere verzogen hatte, weil die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen draußen demonstrierte, präsentierte sich gestern mit einem Stand wenige Meter vom Eingang entfernt. Rückendeckung bekam er von einem Plakat „Vollbeschäftigung für Registrierkassen“ und von mehreren Bezirks-Spitzenkandidaten seiner Partei. „Bitte sagen Sie uns, was Sie von der Abschaffung des Ladenschlussgesetzes halten“, rief er den Leuten zu, die sich nicht lange bitten ließen. „Der Bürger soll selbst entscheiden!“, rief einer. „Der Staat kann den Bürgern nicht vorschreiben, wann sie einkaufen gehen“, ein anderer.
Doch nicht nur am Alex klingelten die Kassen. Die Potsdamer-Platz-Arkaden zogen mit dem „Amerika-Fest“ von DaimlerChrysler 250.000 Schau- und Kauflustige an. Dank der „Euromeile“ am Ku'damm hatten die dortigen Geschäfte sogar bis Mitternacht offen. Karstadt und weitere Läden im Tegel-Center profitierten von dem vom Bezirk veranstalteten „Sommerboulevard“. Am Kaufhof am Ostbahnhof gab es einen Jahrmarkt. Damit der Sonntagseinkauf auch ohne Feste möglich ist, sammelten die Liberalen am Alex fleißig Unterschriften. Wie ernst es ihnen mit der Sonntagsarbeit ist, zeigte sich kurz nach 13 Uhr: Da brachen sie ihre Zelte ab und verschwanden. B. Bollwahn de Paez Casanova
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