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Visionäre und Vorreiter

Vom 20. August bis 11. September fragt das Internationale Sommertheater-Festival „Wo ist Osten?“. Ein erster Wochenüberblick  ■ Stefanie Heim

Sagenhaft, was für Geschichten über den „wilden Osten“ noch so in den Westköpfen herumspuken. Ja, gibt es in den krisengeschüttelten osteuropäischen Regionen überhaupt Theaterkultur – außer Pantomime und Folkloristischem? Böse Falle, dieser Blickwinkel, und das will das morgen beginnende Internationale Sommertheater-Festival beweisen. Deren Leiter Dieter Jaenicke und Gabriele Naumann muss- ten in ihrer zweijährigen Recherche teilweise Pionierarbeit leisten, um zu orten, wo sich „der Osten“ denn nun befindet. Vorträge, Podiumsdiskussionen und Workshops sollen den theoretischen Rahmen bilden.

Schwerpunktmäßig darf jedoch in Tanz geschwelgt werden. Die labyrinthische Bilderwelt des Bühnen-Visionärs Josef Nadj wird als Eröffnungsbonbon ganz sicher dazu verführen. Der im Norden Jugoslawiens geborene, in Ungarn aufgewachsene und inzwischen weltweit gefeierte Choreograf ist für das Hamburger Publikum kein Neuling mehr. In Les commentaires d'Habacuc geht es um die Weissagungen des alttestamentarischen Propheten, welcher dem Land Israel Unglück verhieß.

Eine völlig neue Dimension wird dem Begriff „Blasmusik“ durch die rumänische Kapelle Fanfare Ciocárlia eingehaucht. Zwischen orientalischen Klängen und jiddisch anmutenden Klarinetten-Sätzen blitzen immer wieder bekannte Zigeunermelodien auf. Und niemand schafft es mehr, ihre beats per minute zu zählen.

Als eine der großen Hoffnungen des zeitgenössischen Tanzes in der Tschechischen Republik gelten Lenka Flory und der Italiener Simone Sandroni. Sie und ihre Compagnie Déjà Donné setzen in Aria Spinta die „großen slawischen Themen“ auf originelle Weise um: Es geht um Wünsche und Enttäuschungen, Träume und Schicksal.

Unerklärlich fast, dass der georgische Rustavi Chor sein Publikum schon seit drei Jahrzehnten weltweit mit A-capella-Gesängen von seltener Schönheit begeistert, aber noch nie live in Deutschland zu hören war. Das Konzert in der Hauptkirche St. Katharinen halten die Veranstalter für den Geheimtip des Festivals. Ein alter Bekannter ist dagegen der portugiesische Choreograf Rui Horta. Für sein visionäres Stück Zeitraum ließ er sich von dem Architekten Rem Kohlhaas und dem Autoren Italo Calvino inspirieren. Horta setzt dem jahrtausendendzeitlichen Fatalismus eine positive Utopie für das neue Millennium entgegen.

Um das Bö-se geht es in Born Bad, dem neuen Projekt der Hamburger Regisseurin Barbara Neureiter und ihrer Gruppe Babylon. Sie mischt Fallbeispiele von Serientätern und Massenmördern mit Shakespeare-schen Figuren – ein theatralischer Versuch, die Mechanismen des Tötens zu untersuchen. Wie bereits bei ihrem legendären „Sommer-nachtstraum“ arbeitet Neureiter mit geistig Behinderten aus Alsterdorf zusammen.

Eine weitere Uraufführung findet parallel dazu statt: Der Vorreiter des zeitgenössischen Tanzes im gesamten Gebiet der Ex-Sowjetunion, Sasha Pepelyaev, lässt sein Kinetic Theatre mit One second hand einmal mehr Tragödien der zerbrechenden russischen Gesellschaft tanzen. Mit exzellenten, ballett-trainierten Tänzern kreiert er neue Erzähltechniken zwischen Theater, Akrobatik, Sprache und Bewegung.

Les commentaires d'Habacuc: Fr + Sa, 20. + 21.8., 20 Uhr, k6 Fanfare Ciocárlia: Fr, 20.8., 22.30 Uhr, Sa, 21.8., 22 Uhr, Vorhalle k6 Aria Spinta: Sa + So, 21. + 22.8., 20.30 Uhr, k2 Rustavi Chor: So, 22.8., 19 Uhr, Hauptkirche St. Katharinen Zeitraum: Di + Mi, 24. + 25.8., 20 Uhr, k6 Born Bad: Mi - So, 25. - 29.8., 20 Uhr, Amerika-Haus One second hand: Mi + Do, 25. + 26.8., 20.30 Uhr, k1

Karten unter Tel. 30 05 13 70 täglich 8 - 20 Uhr

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