: Sprache als Erinnern
■ Interview mit dem Schriftsteller Richard Pietraß, 53, über die Eigenheiten der Ostsprache – und was zehn Jahre nach dem Mauerfall davon übrig ist
taz: Gibt es noch eine Ostsprache?
Richard Pietraß: Nicht öffentlich. Wenn Ostdeutsche unter sich sind, fallen sie leichter in ihre gewohnte Sprache – auch im Sinne eines Zurückfallens. Heute ist Ostsprache in erster Linie Erinnern an gemeinsame Erlebnisse. Denn Sprache bezieht sich auf eine Wirklichkeit. In dem Maße, in dem es eine Ostwirklichkeit nicht mehr gibt, kann es auch keine Ostsprache mehr geben.
Und was ist mit Weihnachten und den Engeln?
Ach, Sie meinen die geflügelten Jahresendzeitfiguren. Jeder Ostler würde von Engeln reden. Das war ein Versuch der Sprachregelung, der nicht geklappt hat. Der atheistische Staat wollte möglichst alles Religiöse aus dem Leben verdrängen. Das führte zu absurden Zuspitzungen.
Hat die Parteisprache die Sprache insgesamt geprägt?
Sie hat sie beeinflusst, zumindest die öffentliche Sprache. Zum Beispiel in den Zeitungen. Das war ein fürchterliches „Kaderwelsch“, eine entstellte, primitivierte Sprache. Voller Substantive und Substantivierungen von Verben. „Die Verbesserung der Erfüllung der Planziffern“ – es war eine tote, eine aufgeblähte, eine pathetische und zugleich leere Sprache. Ich habe unter der Offizialsprache der DDR fürchterlich gelitten.
Gibt es auch schöne DDR-Sprachschöpfungen?
Ja. Wenn man von der Armee redete, sprach man von der „Fahne“. Bist du schon bei der Fahne gewesen? Oder wer nicht in der Stadt wohnte, sondern in einer dünn besiedelten Gegend, wohnte in der „Taiga“. Zur Stasi sagte man „Firma“. Das alles waren Versuche, Wortungetüme umgangssprachlich und weniger furchteinflößend zu machen.
In Ostberlin hat sich der Berliner Dialekt viel stärker erhalten als in Westberlin. Warum?
In der DDR war der Zuzug nach Ost-Berlin zeitweise gebremst. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, hatte die DDR das Problem, wen stellt sie als Grenzer an die Mauer. Man befürchtete, dass Berliner nicht auf Berliner schießen. Also holte man nach Möglichkeit Sachsen. Die Beibehaltung des Berlinerischen war auch ein Stückchen Widerstand gegen die sächsische Überfremdung. Ulbricht war ein Sachse. Berlinisch sein hieß Opposition sein. Die Westberliner hingegen waren viel mehr Teil einer karriereorientierten Gesellschaft. Wer in der Bundesrepublik eine vom Dialekt geprägte Herkunft hatte, wollte diese möglichst ablegen. Man wollte weltläufiger sein. Trotzdem bleibt: Kinder, die in Berlin aufwachsen, sprechen Berlinisch.
Wird in Zukunft eine neue Sprache entstehen?
Bei den Kindern, die jetzt klein sind, wird Osten oder Westen keine Rolle mehr spielen. Das Berlinisch, das sie später sprechen, wird vom Westen geprägt sein. Denn die Wirklichkeit im Osten ist zunehmend eine westliche. Wenn Sie durch Mitte gehen, was ist denn da noch vom Osten zu spüren? Nur in den Neubaugebieten wie Marzahn oder Hohenschönhausen wird die DDR noch länger zu bemerken sein. Aber die meisten Berliner fahren ja gar nicht in die jeweils andere Stadthälfte.
Hat der Westen Wörter aus dem Osten aufgegriffen?
Nein. Sprache bezieht sich auf Wirklichkeit, und die Ostwirklichkeit ist verschwunden.
Wie groß war im Arbeiter-und-Bauern-Staat der Unterschied zwischen der Sprache der Arbeiter und der der Intellektuellen?
Groß. Arbeiter reden gerne deftig. Sie lieben den zotigen Witz. Ich glaube, dass die schichtenspezifischen Sprachunterschiede im Osten wie im Westen größer sind als die Ost-West-Unterschiede. Ostarbeiter und Westarbeiter reden ähnlicher als Ostarbeiter und Ostintellektuelle.
Was stört Sie an der westdeutschen Sprache?
Am meisten der Jargon mancher Westintellektueller. Die davon reden, dass sie „involviert“ sind und dass sie jemanden „kontaktieren“ müssen. Und ich möchte nicht „okay“ benutzen. Es ist gedankenlos, ein Anglizismus. Als Schriftsteller muss ich mit meiner eigenen Sprache auskommen, sonst ist es eine Amalgamsprache. Die Westdeutschen haben sich gegen englische und amerikanische Spracheinflüsse weniger gewehrt als die Ostdeutschen gegen das Russische. Die Russen hatten den Ostdeutschen wirtschaftlich ja nichts voraus, im Gegenteil. In Westdeutschland war das anders. Amerika stand für Zukunft und Fortschritt.
Wie würden Sie die ostdeutsche Sprache charakterisieren, wie die westdeutsche?
Die westdeutsche Sprache ist eine zivilere geworden, als es die ostdeutsche sein konnte. Der ostdeutsche Staat, der nicht durch demokratische Wahlen legitimiert war und sich bedroht sah, war angespannter und militaristischer. Der westdeutsche Staat war demokratisch legitimiert und konnte auch durch seinen wirtschaftlichen Erfolg entspannter und ziviler werden. Die westdeutsche Sprache ist außer im politischen Wahlkampf und in der Werbung wenig deformiert. Die offizielle Sprache der DDR war hohl und peinlich. Deshalb war wie in allen Diktaturen der politische Witz oft sehr wichtig. Das ist ein Teil der Emanzipation von der Obrigkeit und ein Stück Seelenhygiene. Wenn man sich über etwas lustig macht, verkehrt man die Verhältnisse. Wenigstens im Witz wollte man dem Staat überlegen sein.
Interview: Annette Rollmann
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